Morgenstunde

[67] Ob du wol auch so schlaflos liegst

und dich in wachen Träumen wiegst

vor Glück, wie sehr die Sehnsucht brennt?

Ich starr' ins dunkle Firmament:

der Morgenstern, in großem Bogen,

ist langsam längst heraufgezogen

und läßt mich lächelnd fühlen, was uns trennt.


Vor meinen schwachen Augen

– nun weiß ich doch, wozu sie taugen –

stralt er, je ferner her, je flimmernder.

Weihnächtig glänzt die graue Stille;

o zögre, Alltag! ohne Brille

sieht man die Welt unendlich schimmernder.
[68]

Schon aber glitzert sein Gezitter blasser;

nun steh ich auf und geb der Lilie Wasser,

die du mir gestern heimlich brachtest.

Und wenn du mich dafür auslachtest:

sanft nehm' ich sie von ihrer Stätte

und leg sie auf mein warmes Bette

und fühle lächelnd, wie du nach mir schmachtest.


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 67-69.
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