Der Weinenthusiast

[115] Ihr rechnet mit des Lebens Größen,

Und ihr gelanget nur zum Schmerz.

An unvermeidlichen Verstößen

Verblutet bald des Menschen Herz.

Was bleibt ihm übrig, als zu flüchten

In das Mysterium des Weins?

Mit Seelengröße zu verzichten,

Beim goldnen Flascheneinmaleins.


Die Freunde müssen uns verlassen,

Das Schicksal treibt sie alle fort;

Doch Menschen, die den Wein nicht hassen,

Hat jede Zeit, hat jeder Ort.

Und wenn die Menschheit selber glücklich

Sich heute nicht zu nennen wagt,

So ist das Wort schon unerquicklich,

Das auch den Becher mir verklagt.


Was war dem Weisesten der Weisen

Der Werth der ganzen Wissenschaft?

Im Tod ein Trinker noch zu heißen,

Trank er mit Lust den Schierlingssaft.

Und Noah, der schon am Ertrinken,

Blieb doch dem Trinken freundlich nur;

Auch Doktor Luther, will mich dünken,

Begriff des Kelches Heilnatur.
[116]

Vergebens singen wir die Erben

Der Sklaverei im Liebesnetz,

Die Liebe aber kann auch sterben,

Und untreu werden kann sie stets.

Den Becher können sie nicht nehmen,

So lang dies Ich sich nicht verliert,

So lang sie diesen Geist nicht lähmen,

Und dieser Leib nicht müde wird!


Bleibt mir der Becher nur, der volle,

So miß ich keinen Erdenreiz,

So fluch ich jedem eitlen Grolle,

So spott ich alles eitlen Leids.

Gelassen will ich stets erscheinen,

Wenn jedes Auge feucht erscheint,

Und nur noch mit der Rebe weinen,

Die ächte Freudenthränen weint!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 115-117.
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