[369] Der Herr Stadtrichter Matta hat über eine Anzahl Spitzbuben abzuurteilen. Es war ein Auflauf gewesen, bei dem mehrere Geldbeutel abgeschnitten wurden. Die Polizei hat verschiedene Leute verhaftet, von denen sie glaubt, daß sie bei dieser Gelegenheit tätig waren. Matta sitzt auf seinem Richterstuhl vor seinem breiten Tisch, zu linken Seite sitzt ihm sein Schreiber und schreibt nach; er läßt die einzelnen Angeklagten vortreten, befragt sie, hört ihre Antworten, befragt die Zeugen, bildet sich sein Urteil und teilt dem Spitzbuben mit, zu wieviel Jahren er verurteilt ist. Das Verfahren erscheint uns vielleicht etwas oberflächlich; aber ländlich, sittlich, das Gericht ist überlastet, die Polizei faßt überhaupt keine Spitzbuben, die nicht unbedingt zu der denkbar höchsten Strafe verurteilt werden müßten, wenn nicht für diese, dann für andere Taten, so daß die Schnelligkeit Mattas den armen Kerls eigentlich nur eine Möglichkeit gibt, glimpflicher davonzukommen. Außerdem reißen die Spitzbuben natürlich sobald wie möglich aus, wenn sie im Gefängnis sitzen.
Pietrino steht mit im Gerichtssaal; aber nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge. Er hat sich den Angeklagten zur Verfügung gestellt. Er war mit im Gedränge und bezeugt bei jedem Spitzbuben, der vorgeführt wird, daß er ihn keinen Geldbeutel hat abschneiden sehen. Das Zeugnis hat bei den ersten Angeklagten geholfen; später fiel es dem Stadtrichter Matta ein, daß der Mann ja vielleicht den Beutel abgeschnitten haben kann, während Pietrino gerade nicht hinsah, und so nützt sein Zeugnis jetzt nichts mehr. Pietrino ist daher auch im Begriff zu gehen; denn wozu soll er sich umsonst im Gericht herumtreiben?[370]
Das Dienstmädchen des Richters Matta erscheint, bestellt dem Herrn einen Gruß von der gnädigen Frau, und Onkel Vittorio wäre gekommen und wollte zum Essen dableiben, und der Herr Richter möchte doch sehen, daß er recht frühzeitig fertig würde. Matta flucht auf die Gedankenlosigkeit der Weiber. Wie oft hat er nicht gesagt, daß sein silberner Trinkbecher, den er von Onkel Vittorio geschenkt bekommen hat, zum Silberschmied zum Ausbeulen geschickt werden soll! Was wird Onkel Vittorio nun von ihm denken, wie er seine Geschenke in Ehren hält! Er entläßt das Dienstmädchen und trägt der gnädigen Frau auf, sie solle wenigstens für etwas Anständiges zu Mittag sorgen.
Das Dienstmädchen geht; Pietrino hat schweigend das Gespräch mit angehört und geht gleichfalls.
Er geht auf den Fischmarkt, wo er eine Fischhändlerin weiß, die ausgezeichnete Fische hat. Er tritt vor ihren Stand, knüpft ein Gespräch mit ihr an und fragt sie, ob sie nicht einen schönen Hecht hat, einen recht schönen Hecht, er muß reichlich sein für fünf Personen, er ist für den Herrn Stadtrichter Matta, und der Herr Stadtrichter Matta hat es nicht gern, wenn auf dem Tisch etwas knapp ist; der Onkel Vittorio ist zu Besuch, und Onkel Vittorio ist der Erbonkel und ist ein starker Esser, und das weiß man ja, wenn Einer ordentlich ißt, dann essen die Andern auch mehr wie sonst. Die Fischhändlerin hat gerade einen Hecht, der für die Gesellschaft des Herrn Stadtrichters paßt, einen Achtpfünder, einen Hecht, wie er selten vorkommt heutzutage, denn der Hecht kann das auch nicht mehr leisten, früher haben die Leute an den Fasttagen eine Seespinne gegessen oder ein halbes Pfund Stint, jetzt soll es immer Hecht sein, und wo soll denn der Hecht herkommen? Sie faßt den Hecht mit zwei Fingern zwischen den Kiemen und hält ihn hoch; ein Staatshecht! Ein Prachthecht! Ein süßes Tier von einem Hecht! Die Fischhändlerin ist ein[371] junges, appetitliches Weib, drall und rotbäckig, mit gleichmäßigen, weißen Zähnen und frischen, blauen Augen. Ein Hecht zum Küssen!
Pietrino kauft den Hecht für fünf Bajocci und bezahlt bar, er läßt sich den Hecht in Papier schlagen und geht zum Hause des Herrn Stadtrichters Matta. Er bestellt der Frau Stadtrichter einen Gruß vom Herrn Stadtrichter, und hier wäre der Hecht für den Mittag, der Herr Stadtrichter habe ihn selber gekauft, die Frau Stadtrichter solle ihn aber gut spicken, und die Frau Stadtrichter möchte doch so freundlich sein und dem Boten den Mundbecher des Herrn Stadtrichters geben, er solle ihn gleich zum Silberschmied bringen zum Ausbeulen.
Die Frau Stadtrichter findet, daß ihr Mann gut gekauft hat, wenn der Hecht nur nicht zu teuer ist, denn den Männern wird immer mehr abgenommen auf dem Markt als den Frauen; sie legt den Hecht auf eine große Schüssel, schließt den Schrank auf und nimmt den Mundbecher heraus. Dann schärft sie dem Boten ein, daß der Silberschmied ihn aber ja gleich in Ordnung bringt und ihn nicht vierzehn Tage lang sich in der Werkstätte herumtreiben läßt, denn der Herr Stadtrichter gebraucht ihn täglich und wäre sehr ärgerlich, wenn er seinen Mundbecher einmal nicht hätte.
Pietrino nimmt den Becher, wickelt ihn in das Papier, das um den Hecht geschlagen war, und zieht ab.
Er geht in die Kneipe, wo Freunde beieinander sitzen, und erzählt seinen Streich. Lange Rübe ist der Oberste am Tisch, er hat selbstverständlich den Ehrenplatz, und Alle sehen auf ihn, was er zu der Geschichte sagen wird.
Lange Rübe zuckt die Achseln. Was ist das schließlich für eine Heldentat! Ein silberner Becher für einen Hecht! Solche Geschäfte macht jeder Kaufmann. Der Gauner muß den Hecht auch wieder mitnehmen, dann hat er etwas geleistet; aber so etwas, das ist gar nichts.[372]
Pietrino ist gekränkt und macht eine ausfallende Bemerkung über Leute, die alles besser wissen, aber besser machen, das ist eine andere Sache. Wortlos nimmt ihm Lange Rübe den Becher ab und geht.
Er nimmt einen jungen Menschen mit, der da am Tische sitzt, und geht geradeswegs zum Hause des Stadtrichters und klingelt. Die Frau Stadtrichter öffnet ihm in Küchenschürze mit geröteten Wangen. Lange Rübe tut so, als ob er sie für das Dienstmädchen hält, und fragt, ob er die gnädige Frau nicht sprechen kann. Die Frau Stadtrichter gibt einen erschrockenen Ton von sich, reißt die Tür zur guten Stube auf und erklärt, daß die gnädige Frau im Augenblick kommen wird. Lange Rübe tritt ein und wartet; der Bursche ist hinter ihm eingetreten und wartet mit, indem er die Mütze in der Hand dreht; die Frau Stadtrichter hat inzwischen ihre Schürze abgeworfen, sich in das Korsett gepreßt, denn sie wallt gewöhnlich uferlos daher, das gute braunseidene Kleid angezogen, schnell die Haare in Ordnung gebracht, und tritt nach einer Viertelstunde mit süßem Lächeln in die gute Stube, indem sie sich über die Dummheit des Mädchens beklagt, die ihr erst jetzt gesagt habe, daß ein Herr warte. Lange Rübe macht eine Verbeugung und stellt sich als geheimen Angestellten der Polizei vor. Die gnädige Frau ist einem frechen Gaunerstreich zum Opfer gefallen. Hier – er zeigt ihr den Becher – diesen Becher hat ihr ein Spitzbube abgeschwindelt, der angab, von dem Herrn Gemahl geschickt zu sein, und einen Hecht mitbrachte, den der Herr Stadtrichter angeblich gekauft haben sollte. Die Polizei hat den Mann bereits dingfest gemacht; sie bittet nur noch, daß die Frau Stadtrichter den Hecht verabfolgt, da man diesen nebst dem Becher als Zeugen der Gaunerei braucht.
Die Frau Stadtrichter fällt aus allen Wolken. Nein, was doch Einem geschehen kann! Und der Herr Stadtrichter hat[373] von nichts gewußt, er hat gar nicht nach dem Becher geschickt, er hat auch den Hecht gar nicht gekauft! Lange Rübe macht eine vornehme Handbewegung. Der Herr Stadtrichter weiß selbst jetzt noch von nichts; aber die Polizei wacht.
Kopfschüttelnd geht die Frau Stadtrichter in die Küche und winkt dem Burschen, daß er ihr folgt; in der Küche gibt sie ihm den Hecht, der noch auf der Schüssel liegt. »Aber die Schüssel gehört mir, ich bekomme sie doch wieder?« fragt sie. »Gewiß, gnädige Frau«, erwidert Lange Rübe, macht eine tadellose Verbeugung, zieht die Hand der gnädigen Frau zum Kuß an den Mund und geht mit dem Burschen ab, der den Hecht trägt.
Pietrino erklärt etwas verdrossen, daß er besiegt ist, denn Lange Rübe hat nicht nur den Hecht, sondern auch noch eine Schüssel aus gutem Porzellan dazu erbeutet. Aber die Wirtin kann den Hecht sehr gut zubereiten, und der Wirt hat einen trefflichen Wein; der Mundbecher des Herrn Stadtrichters geht um und sein Hecht wird aufgetragen, und so wird denn die leichte Verletztheit in allgemeiner Zufriedenheit vergessen.
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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