Unterwegs

[77] Ging ich um die heiße Mittagsstunde,

Die gewitterschwüle, durch die öde

Sonnige Vorstadtgasse meinen Pflichtweg,

Wie dem weiten, aufgesperrten Rachen

Einer plumpen kalten Brunnenfratze

Breit entstürzt und mit Geräusch der Sprudel,

Blasen werfend, regenbogenfarbig,

Also wälzte aus dem großen, roten

Schulgebäude sich ein Schwarm von Mädchen

Auf die Straße, in die helle Sonne.

Jede Größe, jede Farbe: Blonde,

Braune, Schwarze. Flechten, Zöpfchen, Locken.

Freigelassene! Welch' ein Lärmen, Schreien,

Plappern, Springen, Lachen, Kreischen, Schelten!


Aus den offnen Fenstern doch der Schule

Schallen kräftig frische Knabenstimmen,

Lautes, taktgemäßes Fibellesen,

Jede Silbe scharf hervorgestoßen.


Aber alles übertönen plötzlich

Aus dem dritten Stockwerk eines Hauses,

Einer Mietskaserne gegenüber,

Lange, schreckliche Posaunenklänge.

Immer die vier gleichen Takte quälend,[78]

Qualvoll in die Welt hinausgeblasen.

Ist es eines kleinen Tanzorchesters

Posaunist, der sich da oben abquält?

Ist ein Dilettant es, kunstbegeistert?

Ach, der Weg zur Kunst, zu jeder, jeder

Ist so schwer. So viele Stufen führen

Aufwärts nach den lichten, reinen Höhen,

Auf den untersten, den breitgelagert

Freigeräumigen, dies Stoßen, Drängen,

Dies Gewimmel. Aber mählich aufwärts

Lichtet sich's, und spärlich nur bevölkert

Sehn die höchsten über Zeit und Raum weg,

Und die Spitze? Und die höchste Höhe?

Hat sie je ein Sterblicher erklommen?

Oder harrt noch einsam sie des Kommers,

Der von dort mit seinem Finger leise

An die Fackel rührt, die alles Licht giebt.

Hinter mir lag längst die heiße Gasse,

Aber immer klang mir in den Ohren

Noch das qualvoll unverdrossene Blasen,

Wie das Stöhnen einer kranken Seele,

Die mit ihrem Erdenfluch sich abringt,

Leidend, sieglos, aber stolz und störrig:

Es muss sein!


Quelle:
Gustav Falke: Mynheer der Tod. Hamburg 1900, S. 77-79.
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