Gefangen

[87] Aus einer engen, wirren Wildnis sucht

Ich einen Ausweg, doch am Ende stand

Mit einer wehrenden Geberde: Ich.

Nicht heftig, aber zwingend. Also ruhig

Und forschend richtete ich meinen Blick

Auf mich, daß ich betroffen rückwärts trat

Und langsam und von Graun gepackt entwich.


Ich suchte einen andern Weg und fand

Am Ausgang mich und ging zurück, und immer

Fand ich am Ende eines jeden Wegs

Denselben Wächter, daß ich schaudernd floh.


Stolz, Ehrgeiz, Lüge, Wollust, Haß und Neid,

Jedwede Leidenschaft trug meine Züge

Und schreckte mich. Auch Gram und Liebesleid,

Auch blasse Reue mit verquälten Seufzern,

Und Wahnsinn mit erloschnen blöden Augen.

So viel der Tore, so viel Hüter grinsten

Mit einem lautlosen Zurück mich an.


Dann aber fand ich einen scheuen Jungen,

Dem deckte Scham die weichen Wangen, als er

Mich kommen sah, und seine Miene sprach

Fast demutvoll: Verzeih, daß ich hier stehe.


Da faßte Wut mich: Fratze, bist du ich?

Feigling, Erbärmling, gib mir Raum. Und jäh

Schoß tieferer Purpur über seine Schläfen,

Und seine Augen hob er meinem Schimpf

Verwirrt entgegen. Und ich hob die Faust.

Da fiel er totenblaß mir in den Arm,

Und seine Augen riefen, schrien: Schlag nicht!

Ich aber, zornig, rang mit ihm, und rang

Drei Tage und drei Nächte lang, und warf

Ihn nicht, und ließ erschöpft von ihm, und wich

Schrittweis und Blick in Blick. Der seine war

Voll stillen Vorwurfs und verstörter Scham.[88]


Und ich verkroch mich unter einen Busch,

Und meine Wächter folgten mir und spähten

Aufdringlich durch das schwarze Laub

Und quälten mich.


Quelle:
Gustav Falke: Ausgewählte Gedichte. Hamburg 1908, S. 87-89.
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