Des Woiewoden Tochter

[58] Es steht im Wald, im tiefen Wald

Das Haus des Woiewoden;

Eiszapfen hangen am Dache kalt,

Und Schnee bedeckt den Boden.


Das Fräulein sitzt am Herd und spinnt

Zu ihrem Hochzeitschleier;

Sie hört im Rauchfang gehn den Wind

Und schürt empor das Feuer.


Da tritt die Waldfrau zu ihr ein,

Die pflegt nicht Guts zu bringen:

»Guten Abend, feines Goldtöchterlein!

Will dir ein Liedchen singen!«


»Was sollen deine Lieder mir?

Mein Liebster, der kommt balde.

Da hast du Brot, da hast du Bier,

Geh wieder heim zum Walde!«[58]


Die Alte sprach: »Hast immer Zeit,

Dein Schatz wird nimmer kommen,

Der Wald ist tief, der Weg ist weit;

Hat andern Weg genommen.«


»Was quälst du mich mit falschem Weh?

Treu wird mein Liebster bleiben,

Er schwur es mir, bis aus dem Schnee

Einst rote Röslein treiben.«


Das Fräulein rief's, doch war ihr bang,

Der Wind pfiff nicht geheuer,

Die Alte blieb, die Alte sang

Ihr dumpfes Lied ins Feuer:


»Und als ich ging die Schlucht entlang,

Da kamen drei Wölfe gesprungen,

Die heulten wie ob gutem Fang

Und hatten blutige Zungen.


Und als ich kam zum Fichtenzaun,

Drei Raben hört' ich schreien;

Sie schrien: ›Ihr Jungen, euch sollt' traun

Der frische Schmaus gedeihen!‹


Und als ich kam zum eis'gen See,

Hab' ich einen Knaben gefunden;

Es floß wohl über den Winterschnee

Sein Blut aus tiefen Wunden.


Rot Röslein blüht aus dem Schnee so kalt,

Nun hast du's selbst vernommen.

Der Weg ist weit, und tief der Wald,

Dein Schatz wird nimmer kommen.«


Das Lied war aus, die Alte fort,

Des Herdes Glut vergangen,

Die Jungfrau saß und sprach kein Wort,

Ihr waren so bleich die Wangen.


Und lauter draußen pfiff der Wind,

Und lauter schrien die Raben.

Drei Tage nach diesem hat sein Kind

Der Woiewod begraben.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 58-59.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Als einen humoristischen Autoren beschreibt sich E.T.A. Hoffmann in Verteidigung seines von den Zensurbehörden beschlagnahmten Manuskriptes, der »die Gebilde des wirklichen Lebens nur in der Abstraction des Humors wie in einem Spiegel auffassend reflectirt«. Es nützt nichts, die Episode um den Geheimen Hofrat Knarrpanti, in dem sich der preußische Polizeidirektor von Kamptz erkannt haben will, fällt der Zensur zum Opfer und erscheint erst 90 Jahre später. Das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren, der Jurist Hoffmann ist zu dieser Zeit Mitglied des Oberappellationssenates am Berliner Kammergericht, erlebt er nicht mehr. Er stirbt kurz nach Erscheinen der zensierten Fassung seines »Märchens in sieben Abenteuern«.

128 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon