Scheiden, Leiden

[75] Und bist du fern, und bist du weit

Und zürnst noch immer mir,

Doch Tag und Nacht voll Traurigkeit

Ist all mein Sinn bei dir.

Ich denk' an deine Augen blau

Und an dein Herz dazu -

Ach, keine, keine find' ich je,

Die so mich liebt wie du.


Wie stand die Welt in Rosen schön,

Da ich bei dir noch war;

Da rauscht' es grün von allen Höhn,

Da schien der Mond so klar.[75]

Du brachst die Ros', ich küßte dich,

Ich küßt' und sang dazu:

Wohl keine, keine find' ich je,

Die so mich liebt wie du.


Wohl bin ich frei nun wie der Falk,

Der über die Berge fliegt,

Vor dem die Welt, die schöne Welt

Hellsonnig offen liegt;

Doch hat der Falk sein heimisch Nest,

Und wo wird mir einst Ruh'?

Ach, keine, keine find' ich je,

Die so mich liebt wie du.


O schlimmer Tag, o schlimme Stund'

Die uns für immer schied!

Da sind aus meines Herzens Grund

Geschieden Freud' und Fried'.

Nun such' ich wohl durch Land und See

Und habe nicht Rast noch Ruh';

Doch keine, keine find' ich je,

Die so mich liebt wie du.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 75-76.
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