Was uns fehlt!

[174] Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzugen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also, daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.


Es ist in leere Nüchternheit die ganze Welt versunken,

Und keine Zunge redet mehr vom Heil'gen Geiste trunken;

Die Poesie, das fromme Kind, ist scheu von uns gewichen,

Der Himmel dünkt uns trüb und grau, und Sonn' und Mond verblichen;

Die groß geschaut und groß gebaut, sie schlummern in den Särgen,

Auf ihren Gräbern kriechen wir als ein Geschlecht von Zwergen,

Nichts blieb uns als die schlimmste Kunst, zu zweifeln und zu richten,

Und wenn sich ein Gigant erhebt, so ist er's im Vernichten.


Wohl grübelt ihr und möchtet gern das große Rätsel lösen,

Aus welchem tiefverborgnen Quell der Strom sich wälzt des Bösen,

Ihr eilt geschäftig hin und her, um Wust auf Wust zu türmen,

Und meint mit eures Witzes Rat den Himmel zu erstürmen,

Doch seht, nur eines Donners Schlag, nur eines Blitzes Flammen,

Und eurer Weisheit Pelion und Ossa stürzt zusammen.


Ich aber sage euch: Fürwahr, es wird nicht anders werden,

Bis ihr den Blick nicht himmelwärts erhebt vom Staub der Erden,

Bis ihr dem Geist der Liebe nicht, dem großen Überwinder,

Demütig euer Herz erschließt und werdet wie die Kinder;[175]

Denn wo die Liebe wohnt, da hat ein ew'ger Lenz begonnen,

Da grünen alle Wälder auf, und rauschen alle Bronnen,

Ihr offenbart sich, was dem Blick der klugen Welt verborgen,

In trüber Dämmrung sieht sie schon den rosenroten Morgen,

Das Brausen wird ihr zur Musik, zum Reigen das Gewimmel,

Helljauchzend steigt ihr Lied empor auf Flügeln in den Himmel,

Sie ist ein Kind und doch ein Held mit unbesiegten Waffen,

Und weil sie noch an Wunder glaubt, so kann sie Wunder schaffen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 174-176.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Zeitstimmen
Zeitstimmen: Zwölf Gedichte (German Edition)