Nach zehn Jahren

[276] In der Schwester Haus nach langer Irrfahrt

Trat ich ein; da hört' ich's drinnen jauchzen

Hell von unbekannten Kinderstimmen.

Sieh, und im Gemach, in das der Abend

Golden flutete durch schattend Weinlaub,

Sah ich wohlgemut die Kleinen spielen,

Sieben an der Zahl. Die blonden Häupter

Tummelten im reichergoßnen Schimmer

Froh umher, und wie die Rosen blühten

Ihre Wangen von gesunder Frische.


Ach, sie alle waren nicht geboren,

Als ich auszog, durch die Welt zu schweifen,

Selbst die Namen wußt' ich kaum zu nennen.

Still verwundert drum mit großen Augen

Schauten sie mich an, das Spiel verstummte,

Und die Älteste, mir schüchtern nahend,

Fragte mit der Mutter Ton: »Wer bist du?«

Doch da kam die Schwester. In die Arme

Sank ich ihr, und dann voll Wonne zeigte

Sie die Kinder mir, den Schatz des Hauses,

Der so lieblich sich gemehrt, und zeigte

Dann den heimgekehrten Ohm den Kindern.

Und nun gab's ein Jubeln, rasch entschlossen

Kletterten an mir empor die Buben,

Mich zu küssen, und die Mädchen bogen

Mir das Haupt herab, und selbst das Kleinste,

Das sich erst gescheut vor meinem Barte,

Tastete nach mir mit seinen Händchen.[276]


O wie ward mir's wohl, so ganz umschlungen,

Ganz umrankt vom jungen, frischen Leben,

Das wie eine Bienentraub' am Stocke

Um mich hing und tausend Wunder fragte!

Aber leise ging ein Hauch der Wehmut

Durch das Herz mir doch, denn diese Küsse,

Diese Fragen, die mich rings bestürmten,

Mahnten sie zugleich nicht: So viel Schritte

Sie getan ins Leben, so viel Schritte

Hast auch du getan dem Tod entgegen,

Und schon reift in ihnen täglich rascher

Das Geschlecht, das über deinem Grabe

Wandeln soll und selig sein und weinen.

Und wie segnend legt' ich meine Hände

Auf ihr Haupt und dachte still die Worte:

Seid gegrüßt, ihr holden Todesboten!

Seid gegrüßt, ich dank' euch, daß so lieblich

Ihr den ernsten Gruß an mich bestellt habt!

Aber ihr - zu vollem Leben freudig

Wachset auf, daß, wenn ich einst dahin bin,

Ihr vollenden mögt mit euren Brüdern,

Was ich selbst und mein Geschlecht nicht konnte!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 276-277.
Lizenz:
Kategorien: