Den Dichtern

[302] 1849.


Ihr Sänger, denen auf die Brauen

Einst süßer Tau des Himmels fiel,

Daß ihr im dunkeln Heut zu schauen

Vermögt der Zukunft Farbenspiel,

Auf, jetzt gedenkt, wie euch gegeben

Ein Heilsamt aller Sühnung voll,

Und laßt das Lied erhabner schweben

Als dieser Tage Lieb' und Groll!


Zum wüsten Kampf nicht, der die Stufen

Noch blind umtobt mit Schwert und Brand,

Zur Tempelwacht seid ihr berufen,

Und auf den Höhn ist euer Stand.

Wenn alle schwanken, trutzen, zagen

Beim jähen Wetterschlag der Zeit,

Sollt ihr in freier Seele tragen

Das Maß und die Gerechtigkeit.[302]


Die heil'gen Schätze sollt ihr hüten,

Die fromm die Väter angehäuft,

Des Herzens keusche Wunderblüten,

Den Glauben, der von Frieden träuft.

Ihr sollt durch diese Zeit von Eisen

Forttragen im gediegnen Wort

Als hochbegnadigte Templeisen

Der Schönheit Licht, des Geistes Hort.


Nicht dürft ihr euch vor Thronen beugen

Noch knieen, wo der Pöbel kniet;

Die ew'ge Wahrheit braucht der Zeugen,

Und Opferfeuer sei das Lied,

Daß, wenn dereinst nach Sturm und Fluten

Erscheint des Friedensbogens Tag,

Das Volk an euern reinen Gluten

Der Freiheit Fackel zünden mag.


Hinweg drum mit des Grimmes Falten,

Mit Schellenklang und Brunst und Lug!

Wie mag der Arm die Wage halten,

Der mit dem Schwert den Bruder schlug?

Wie mag den Kelch des Segens spenden,

Wer selbst am Mahl der Sünde zecht?

Rein sollt ihr sein an Herz und Händen,

Ihr seid ein priesterlich Geschlecht.


Und will euch schier die Kraft versiegen,

Und schwankt euch in der Brust das Herz:

Gebete, die zum Himmel fliegen,

Ziehn Feuerzungen niederwärts;

Und aus der Schöpfung heil'gem Leben,

Aus ihrer ewig heitern Ruh'

Strömt mit geheimnisvollem Weben

Verjüngung euch und Klarheit zu.


Geht hin zum Meer in Abendgluten,

Geht hin zum Wald und rüstet euch![303]

Der Geist schwebt heut noch auf den Fluten,

Noch heute flammt's im Dorngesträuch;

Da wird in ahnungsvollem Segen

Der Herr euch nah sein, nah und hold,

Und wird euch auf die Lippen legen,

Was ihr dem Volk verkünden sollt.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 302-304.
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