Nachtigallenschlag

[330] Erste Nachtigall.


Tio tjo, tio tjo, tiotinx,

O wie süß, o wie süß

Im blühenden Flieder

Auf und nieder[330]

Zu schaukeln,

Zu gaukeln,

Wenn der Mond erwacht,

Durch die lange, duftige Sommernacht,

O wie süß, o wie süß!


Zweite Nachtigall.


Frau Nachbarin, Gott grüß'!

Tio tjo, tio tjo, hier gefällt mir's auch

Im Holunderstrauch,

Wo die blauen Glocken

Über dem Wasser hangen –

Züküht, züküht – seht, wie sie prangen!

Wollen noch mehr zusammenlocken.

Tio tjo, tio tjo!


Dritte Nachtigall (kommt geflogen).


Wer ruft mir so?


Erste Nachtigall.


Ei, auch schon hier

Im grünen Revier?


Zweite Nachtigall.


Glaubten dich noch im Süden weit,

Wo die Orange Blüten schneit,

Warst ja so glücklich noch dort, als wir zogen;

Sangst immerzu

Ohne Rast und Ruh',

Das war ein Schwellen, ein Wogen.

Sprich, was wandte so schnell dir den Sinn,

Daß du doch nach Norden geflogen?


Dritte Nachtigall.


Er ist hin! Er ist hin!

Alles Glück ein Hauch!


Zweite Nachtigall.


So sprich doch, wer?


Dritte Nachtigall.


Mein Rosenstrauch.

Ich hatt' ihn so wert, so lieb gehatt,[331]

Kannt' jede Knospe, jedes Blatt;

Der König war er der ganzen Au,

Sein Gold und Perl' der Morgentau

Im Purpur aufgefangen –

Kam der Sommer ins Tal

Mit heißem Strahl,

Da ist er verwelkt, vergangen.


Erste Nachtigall.


Ärmste! Und nun?


Dritte Nachtigall.


Mich ließ es nicht ruhn.

Flog weit, immer weiter, bis zu euch,

Abschied zu nehmen, ihr Guten.

Dort im dichten Jasmingesträuch

Laßt mich in Liedern verbluten.


(Fliegt ins Dickicht.)


Erste Nachtigall.


Tio tjo, tio tjo! Lieb Schwesterlein!

Wir wollen mit dir traurig sein.


Zweite Nachtigall.


Wollen klagen mit hellem Schlag

Bis an den rosenroten Tag,

Züküht, züküht.


(Flattern fort.)


Kuckuck (setzt sich auf eine Pappel.)


Kuckuck, kuckuck, und noch einmal!

Was sind die Vögel doch sentimental!

Kuckuck, kuckuck! Bin Rezensent;

Wenn ich's nur besser machen könnt'!

Kuckuck!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 330-332.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon