Die Windsbraut

[354] Nun ist der Frühling kommen ins Land,

So wonnig geht sein Hauch;

Es schlägt die junge Nachtigall

Im blühenden Fliederstrauch.


Sie schlägt so süß, sie singt so trüb

Von großer Liebesmacht;

Am Spiegel steht das Burgfräulein

Und strählt ihr Haar und lacht.


Da tritt ihr Bruder dar zu ihr:

»O Schwester Kunigund',

Verzeih' dir Gott das Lachen

Von deinem roten Mund![354]


Verzeih' dir Gott dein arges Spiel

Und deinen harten Sinn!

Wer hat dich solche Kunst gelehrt,

Du stolze Zauberin?


Du fängst mir Ritter und Edelknecht

Mit deiner Augen Schein;

Du singst ihr Herz in Liebesglut,

Und deins bleibt kalt wie Stein.


O Schwester, wer mit Flammen spielt,

Der lösch' auch, wo es brennt;

Dein Locken und dein Höhnen,

Das nimmt kein gutes End'.«


Das Fräulein schüttelt ihr goldnes Haar:

»Du sprichst nicht nach Gebühr.

Und glänzt mein Aug', und blüht mein Mund,

Sag' an, kann ich dafür?


Was schiert mich all die Liebesglut

Von Ritter und Edelknecht?

Laß sie verderben und sterben!

Sie sind mir viel zu schlecht.


Laß sie verderben und sterben!

Eh' sie mich lehren frein,

Der Wind, der Wind, das Königskind,

Soll eh' mein Buhle sein.«


Zu Nacht das Fräulein schlief im Saal;

Sie hatt' einen schweren Traum.

Ihr war's, sie flög' ein Vogel

Im bodenlosen Raum.


Sie flog und hatte nicht Rast, es ging

Ein Sausen hinterher,

Hoch über ihr die leere Luft

Und unter ihr das Meer.


Und plötzlich ward es totenstill,

Ihr Flügel war wie Blei:

Hinunter stürzt sie jählings –

Da wacht sie auf im Schrei.[355]


Da horch, was klirrt und klingt im Saal?

Die Fenster springen auf –

So wie das Sausen dort im Traum,

So fließt's an ihr herauf.


Des Lagers Decken lüften sich,

Sie weiß nicht, wie's geschehn;

Ihr faltig Nachtkleid flattert,

Ihre goldnen Locken wehn.


Es küßt sie was so kühle,

Daß ihr das Blut gerinnt;

Es kommt ein langer, luft'ger Arm

Und hebt sie auf geschwind.


»Hinaus, hinaus, Feinslieb, und fort

Im weißen Mondenschein!

Und ist dein Fuß gleich unbeschuht,

Es geht zum Hochzeitsreihn.


Ich bin der Wind, das Königskind,

Du überstolzes Blut:

Die Wälder neigen sich unter mir,

Und mir gehorcht die Flut.«


Und über die Wälder trägt er fort

Und über das Meer sein Lieb

Mit Saus und Braus und Pfeifenklang –

Weiß keiner, wo sie blieb.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 354-356.
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