Eine Sommernacht

[299] Wie glänzte tief azuren

Der See und rauschte sacht,

Als wir von Lindau fuhren

In klar gestirnter Nacht!


Sanft weht' es von den Hügeln

Und leise wie ein Schwan

Mit ausgespannten Flügeln

Zog unser Schiff die Bahn.


Sie saß in warmer Hülle,

Das Kind an ihrer Brust,

Versunken in die Fülle

Der Lieb' und Mutterlust.


Und wie ins Sterngefunkel

Entzückt ich schaut' empor,

Kam leise durch das Dunkel

Ihr Flüstern an mein Ohr:


»O Mann, seit uns beschieden

Dies süße Glück zu drein,

Wie fühl' ich schon hienieden

Den ganzen Himmel mein!«


Sie sprach's, und plötzlich linde

Umfloß ein Glorienlicht

Ihr selig zu dem Kinde

Geneigtes Angesicht.[299]


Der Mond war aufgegangen

Am Saum des Firmaments,

Und übers Wasser klangen

Die Glocken von Bregenz.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 299-300.
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