Gruß aus dem Gebirge

[358] Auf den dunkelgrünen See

Schaut vom Berge die Kapelle,

Fernher glänzt der Alpen Schnee

In entwölkter Mittagshelle.


O wie lieb' ich diesen Ort,

Wo der Welle Schaum im Grunde,

Wo die stillen Riesen dort

Zeugen waren unserm Bunde!


Ganz wie damals braust zu mir

Dumpf herauf der Schlag der Fluten,

Als wir weltvergessen hier

Hand in Hand am Kirchlein ruhten,


Als dein Auge feuchten Blicks

Selig nah in meines schaute,

Und ein Himmel alles Glücks

Mir aus seinen Tiefen blaute.


Heut, Geliebte, bist du weit,

Doch du bist mir nicht entschwunden,

Nimmer scheiden Raum und Zeit

Herzen, die sich so gefunden.


Ob zum fernsten Lorbeerhain

Südwärts du die Schritte lenkest,

Stündlich, wie ich denke dein,

Weiß ich, daß du mein gedenkest.


Und aus der Erinnrung Lust

Pocht mein Herz mit frohen Schlägen,

Deiner treuen Huld bewußt,

Schon dem Wiedersehn entgegen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 358-359.
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