Neugriechischer Mythus

[362] Hoch auf Suniums Felsenklippe

An zerborstner Tempelwand

Zwischen Schutt und Dorngestrippe

Lehnt' ich, als der Abend schwand.


Um die Säulenknäufe flogen

Möwenschwärme kreischend her,

Und im endlos weiten Bogen

Mir zu Füßen lag das Meer.


Und indes im Spätrotscheine

Fern den Blick ich schweifen ließ,

Plauderte die braune Kleine,

Die vom Tal den Pfad mir wies.


Vieles wußte sie zu melden

Von der großen Perserschlacht,

Von Themistokles, dem Helden,

Welcher Hellas frei gemacht;[362]


Wie er klug den Sieg erworben,

Durch geweihten Spruch belehrt,

Wie er drauf verbannt gestorben

Und im Tod erst heimgekehrt.


»Dort an jener Felsenecke«,

Sprach sie, »glänzt an stillem Tag

Durch die grüne Wasserdecke

Ein versunkner Sarkophag.


Drinnen lag der Held begraben,

Doch das Meer hat ihn erwühlt,

Und die großen Wogen haben

Sein Gebein hinweggespült.


Aber einst, hab' ich vernommen,

Wird der Retter Griechenlands

Aus der Tiefe wiederkommen

Und uns führen gen Byzanz;


Wird uns dort das Reich bestät'gen

Und erhöhn das Kreuzpanier!« –

Also sprach das Hirtenmädchen,

Und die Augen glänzten ihr.


Fern vergingen Luft und Welle

In azurner Finsternis,

Und des Vollmonds erste Helle

Dämmert' über Salamis.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 362-363.
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