Geschichte des Hyas

[57] Empfange mich, dem Gram geweihter Bach!

Oft schallt mein traurig Lied dir sympathetisch nach.

Wenn hier vor deiner Nymphe Klagen

Wehmüth'ge Herzen stärker schlagen;

Wenn Zephyre hier deiner Nymphe Klagen

In schaudernd Laub sanfthallend übertragen.

Es horcht der Hayn auf der Najade Lied.

Und beugt vor der Najade Lied

Sein Haupt, das finstrer Ernst umzieht:

Und herrscht den bängsten Gram in Eulen,

Die fürchterlich auf seinen Armen heulen.


Einst, Daphne, war die Halbgöttinn

Ein Mädchen, eine Schäferinn,

Des ganzen Thales Wunsch und Ehre:

Doch stolz und wilder noch, als Meere,

Und wilder noch als du – wenn dieses möglich wäre.

Selbst Hyas, der Adon der Flur,

Schön, wie die schönere Natur,[58]

Von dessen sanfter Stirn, wie von des Amors Bogen,

In manche weiße Brust der Liebe Pfeile flogen;

Auf den, bey jedem Reihentanz,

Der feinste Strauß, der buntste Kranz,

Von Seufzern still begleitet, flogen:

Selbst Hyas liebte sie!

Mit wie viel Ehrfurcht liebt er sie!

Wie rührend klang sein zärtlich Lied um sie!

Die fernste Flur empfand des Liedes Harmonie,

Nur sie, nur sie empfand es nie.

Wie unaussprechlich ward sein Leiden!

Die Grausame! stets floh sie ihn!

Die Grausame! wie konnte sie ihn fliehn? –

Beb, Eitle, beb! und fürchte seine Leiden!

Die Rache wird nicht stets verziehn.

Kannst du am tiefsten Harm dein stolzes Auge weiden?


Einst bat er sie auf seinen Knien,

Mit Thränen bat er sie, nicht ewig ihn zu fliehn:

Se floh: und sterben sah sie ihn.

Er starb, der Hirt, von dem in ihren Finsternissen

Die Fabel einst gedichtet hat,[59]

Daß eine Löwinn ihn zerrissen –

Sie war die Löwinn, die es that.


Sie starrt und bebt. Der Reue Schmerzen

Ergreifen schnell das härteste der Herzen;

Zeus sah des Mädchens Leid,

Und gab in zürnender Gerechtigkeit

Ihr einer Nymph Unsterblichkeit,

Gab ihrem Gram die Ewigkeit.

Die schwermuthsvolle der Najaden

Weint seit Jahrhunderten hier noch um ihren Freund;

Und diesen Bach hat sie und die Hyaden

Auf seine Leiche hingeweint!

Ach! ewig weint sie hier, die bängste der Najaden.


O Daphne! – mein schwerklopfend Herz! –

Auch du verachtest meinen Schmerz! –

O warnten doch die weinenden Hyaden,

Und diese bängste der Najaden,

Und dieser Bach, dein hartes Herz.

Quelle:
Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 359.
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