Erythia

[102] Myrson.


Hier laß uns im Bache gehn, das Wasser kühlt unsre Füsse; über uns wölben sich Weiden und schlanke Eschen mit Schatten.


Lycidas.


Seys denn; bey dieser schwülen Hitze sucht jeder schmachtend die Kühlung.


Myrson.


Laß uns gehn bis dahin wo der Bach herunter sich stürzt; lieblich ists dort und kühl, als schwämmst du beym Mondschein im Wasser.


Lycidas.


Horche, schon hör ich des fallenden Wassers Geräusche. Es ist, als sucht' jedes Geschöpf' in diesen Schatten seine Freude. Welch Gesumse, welch Schwirren, welch Zwitschern, welch frohes buntes Gewimmel flattert da im Schatten! Diese kleine Wasserstelze, will sie den Weg uns weisen? Sieh, wie sie vor uns her so munter von Stein zu Steine hüpft. Ha! Sieh da, wie ein heller Sonnenstral in diesen holen Weidenstamm fällt, mit Winden und Epheu behangen. Sieh doch, ein junges Böckgen schläft drinnen; wie schlau hat sich das die angenehme Ruhstatt gewählt!


Myrson.


Du siehst alles; nur nicht, daß wir da sind wo wir seyn sollen.


Lycas.


Ha ja! Pan! Ihr Götter! Welch angenehmer Ort ist das!


Myrson.


Wie ein silberner Teppich, den ein sanfter Wind bewegt, deckt der stürzende Bach die hinter ihm sich wölbende Höle; ein Kranz von Gesträuchen umfaßt ihn. Komm, laß uns hinter den Wasserfall in die Höle gehn.


[102] Lycas.


Ha, mir schauerts von angenehmer Kühlung! Wie der Bach vor uns niederplätschert! Jeder stürzende Tropfe flimmert am Sonnenstrahl wie Feuer.


Myrson.


Laß hier auf die höhern mit Moos bedeckten Steine uns sizen; unsre Füsse ruhen unbenetzt auf denen die in dem Wasser liegen, indeß daß der Wasserfall uns in die Höle verschließt.


Lycas.


So einen anmuthsvollen Ort hab ich noch nie gesehn.


Myrson.


Ja anmuthsvoll ist er; auch ist er dem Pan heilig. Am Mittag fliehn ihn die Hirten; man sagt, daß er dann oft da ruhet. Auch wird von der Quelle eine Geschichte gesungen: Verlangest du das, so will ich sie singen.


Lycas.


Hier sizen wir bequem; auf diesem Polster von Moos lehn ich mich an die Felsenwand hin, und höre mit Entzüken deinen Gesang.

Schön, du Tochter des Eridanus, schöner als alle von Dianens Gefolge, warst du Erythia. War gleich ihre Schönheit noch im Aufblühn, halb Kind noch, war sie schon von schlanker Grösse; kindische Unschuld lächelte noch im schönen Gesichte, und Schüchternheit im glänzend blauen Auge; ihr junger Busen, nur sanft gewölbt, versprach erst noch den vollern Wuchs. Bey der Sonnenhitze hatte mit ihren Gespielen sie auf den Gebürgen die Rehe verfolgt; und müde, und von Durst schmachtend lief sie zu einer Quelle. Sie kühlte die Hand, und wusch ihr schönes Gesicht; dann schöpfte sie einen kühlen Trunk, und schlürft' ihn mit kleinen Lippen. So beschäftigt, über den Bach gebückt, dachte sie an keine Gefahr; aber Pan hatte aus nahen Gesträuchen sie betrachtet, und Liebe flammete schnell in seinem Busen auf. Ihr unbemerkt schlich er herbey, bis das Geräusche des nähesten Grases an ihrem Rüken ihn verrieth. Erschrocken sprang sie auf, entwischte seinen nervigten vor Verlangen zitternden Armen; schon fühlte seine Wärme sie an ihren Hüften; ein Rosenblatt hätt' ausgefüllt, was zwischen ihr und seiner Hand noch war. Schnell sprang sie über den Bach, leicht war[103] sie wie ein Reh, Schrecken machte sie schneller; so lief sie, er lief ihr nach; so lief sie über die Trift hin, wie ein schneller Wind über des Grases Spitzen streift; aber plötzlich stand sie vor Entsetzen still. Am äussersten Rand eines Felsen stand sie, bebte zurück, und sah erblassend ins tiefe Thal. Dann rief sie mit ängstlichem Geschrey: O Diana! Schüzerin der Keuschheit, o rette, rette mich, daß kein unkeuscher Arm meine Hüften umschlinge! Rette, o rette, Diana, [S]chützerin der Keuschheit! Aber der Gott war an ihrer Ferse schon; schon fühlt sie seinen Athem, und jetzt seinen umschlingenden Arm. Doch die der Liebe ungewogene Göttin hört' ihr angstvolles Flehn; Wasser trieft von seinen umschlingenden Armen, und die an sie gedrückte Brust herunter: sie zerschmilzt in seiner Umarmung zur Quelle; schmilzt, wie Frühlingsschnee an einem braunen Felsen; schmilzt, trieft von seinen Armen, rieselt sein Knie herunter, rieselt durchs Gras, stürzt von der Felsenwand, und rieselt schon unten im Thal. Und so entstand Erythia, die reine Quelle.

Quelle:
Salomon Gessner: Idyllen. Stuttgart 1973, S. 102-104.
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