Idylle

[294] Er wird angenommen, ein ländliches Chor

habe sich versammelt und stehe im Begriff,

seinen Festzug anzutreten.


Chor


Dem festlichen Tage

Begegnet mit Kränzen,

Verschlungenen Tänzen,

Geselligen Freuden

Und Reihengesang.


Damon


Wie sehn ich mich aus dem Gedränge fort!

Wie frommte mir ein wohlverborgner Ort!

In dem Gewühl, in dieser Menge

Wird mir die Flur, wird mir die Luft zu enge.


Chor


Nun ordnet die Züge,

Daß jeder sich füge

Und einer mit allen,

Zu wandeln, zu wallen

Die Fluren entlang.


Es wird angenommen, das Chor entferne sich;

der Gesang wird immer leiser, bis er zuletzt ganz,

wie aus der Ferne, verhallt.


[294] Damon


Vergebens ruft, vergebens zieht ihr mich;

Es spricht mein Herz; allein es spricht mit sich.


Und soll ich beschauen

Gesegnetes Land,

Den Himmel, den blauen,

Die grünenden Gauen,

So will ich allein

Im stillen mich freun.


Da will ich verehren

Die Würde der Frauen,

Im Geiste sie schauen,

Im Geiste verehren;

Und Echo allein Vertraute soll sein.


Chor


Aufs leiseste, wie aus der Ferne


mischt absatzweise in Damons Gesang die Worte.

Und Echo – allein –

Vertraute – soll sein.


Menalkas


Wie find ich dich, mein Trauter, hier!

Du eilest nicht zu jenen Festgesellen?

Nun zaudre nicht und komm mit mir,

In Reih und Glied auch uns zu stellen.


Damon


Willkommen, Freund! doch laß die Festlichkeit

Mich hier begehn im Schatten alter Buchen:

Die Liebe sucht die Einsamkeit;

Auch die Verehrung darf sie suchen.


[295] Menalkas


Du suchest einen falschen Ruhm

Und willst mir heute nicht gefallen.

Die Liebe sei dein Eigentum;

Doch die Verehrung teilest du mit allen!


Wenn sich Tausende vereinen

Und des holden Tags Erscheinen

Mit Gesängen,

Freudeklängen

Herrlich feiern,

Dann erquickt sich Herz und Ohr;


Und wenn Tausende beteuern,

Die Gefühle sich erschließen

Und die Wünsche sich ergießen,

Reißt es kraftvoll dich empor.


Es wird angenommen, das Chor kehre

nach und nach aus der Ferne zurück.


Damon


Lieblich hör ich schon von weiten,

Und es reizet mich die Menge;

Ja, sie wallen, ja, sie schreiten

Von dem Hügel in das Tal.


Menalkas


Laß uns eilen, fröhlich schreiten

Zu dem Rhythmus der Gesänge!

Ja, sie kommen, sie bereiten

Sich des Waldes grünen Saal.


Chor allmählich wachsend


Ja wir kommen, wir begleiten

Mit dem Wohlklang der Gesänge

Fröhlich, im Verlauf der Zeiten,

Diesen einzig schönen Tag.


[296] Alle


Worauf wir zielen,

Was alle fühlen,

Verschweigt, verschweiget!

Nur Freude zeiget!

Denn die vermag's;

Ihr wird es glücken,

Und ihr Entzücken

Enthält die Würde,

Enthält den Segen

Des Wonnetags!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 294-297.
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