Ziblis

[9] Eine Erzählung


Mädchen, setzt euch zu mir nieder,

Niemand stört hier unsre Ruh,

Seht, es kommt der Frühling wieder,

Weckt die Blumen und die Lieder,

Ihn zu ehren, hört mir zu.


Weise, strenge Mütter lehren:

»Mädchen, flieht der Männer List!«

Und doch laßt ihr euch betören!

Hört, ihr sollt ein Beispiel hören,

Wer am meisten furchtbar ist.
[9]

Ziblis, jung und schön, zur Liebe,

Zu der Zärtlichkeit gemacht,

Floh aus rauhem, wilden Triebe,

Nicht aus Tugend alle Liebe,

Ihre Freude war die Jagd.


Als sie einst tief im Gesträuche

Sorglos froh ein Liedchen sang,

Ward sie blaß wie eine Leiche,

Da aus einer alten Eiche

Ein gehörnter Waldgott sprang.


Zärtlich lacht das Ungeheuer,

Ziblis wendet ihr Gesicht,

Läuft, doch der gehörnte Freier

Springt ihr wie ein hüpfend Feuer

Nach und ruft: »O flieh mich nicht!«


Schrei'n kann niemals überwinden.

Sie lief schneller, er ihr nach.

Endlich kam sie zu den Gründen,

Da, wo unter jungen Linden

Emiren am Wasser lag.


»Hilf mir!« rief sie. Er, voll Freude,

Daß er so die Nymphe sah,

Stand bewaffnet zu dem Streite

Mit dem Ast der nächsten Weide,

Als der Waldgott kam, schon da.


Der trat näher, ihn zu höhnen,

Und ging schnell den Zweikampf ein.

Sie erbebt für Emirenen.

Immer wird das Herz der Schönen

Auf des Schönen Seite sein.
[10]

Seinen Feind im Sand zu höhnen,

Regt sich Fuß und Arm und Hand,

Bald mit Stoßen, bald mit Dehnen.

Liebe stärkt die Kraft der Sehnen,

Beide waren gleich entbrannt.


Endlich sinkt der Faun zur Erden,

Denn ihn traf ein harter Streich.

Gräßlich zerrt er die Gebärden;

Emiren, ihn loszuwerden,

Wirft ihn in den nächsten Teich.


Ziblis lag mit matten Blicken,

Da der Sieger kam, im Gras.

Wird's ihm, ihr zu helfen, glücken?

Leicht sind Mädchen zu erquicken,

Oft ist ihre Krankheit Spaß.


Sie erhebt sich. Neues Leben

Gibt ein heißer Kuß ihr gleich.

Doch, der einen schon gegeben,

Sollte nicht nach mehrern streben?

Das sieht einem Märchen gleich.


Wartet nur. Es folgten Küsse

Hundertweis; sie schmeckten ihr.

Ja, die Mäulchen schmecken süße.

Und bei Ziblis waren diese

Gar die ersten. Glaubt es mir.


Darum sog mit langen Zügen

Sie begierig immer mehr.

Endlich trunken von Vergnügen,

Ward dem Emiren das Siegen,

Wie ihr denken könnt, nicht schwer.
[11]

Mädchen, fürchtet rauher Leute

Buhlerische Wollust nie.

Die im ehrfurchtsvollen Kleide

Viel von unschuldsvoller Freude

Reden, Mädchen, fürchtet die.


Wacht, denn da ist nichts zu scherzen.

Seid viel lieber klug als kalt.

Zittert stets für eure Herzen.

Hat man einmal diese Herzen,

Ha, das andre hat man bald!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 9-12.
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