Vollmondnacht

[109] Herrin, sag, was heißt das Flüstern?

Was bewegt dir leis die Lippen?

Lispelst immer vor dich hin,

Lieblicher als Weines Nippen!

Denkst du deinen Mundgeschwistern

Noch ein Pärchen herzuziehn?


»Ich will küssen! Küssen! sagt ich.«


Schau! Im zweifelhaften Dunkel

Glühen blühend alle Zweige,

Nieder spielet Stern auf Stern;

Und smaragden durchs Gesträuche

Tausendfältiger Karfunkel;

Doch dein Geist ist allem fern.


»Ich will küssen! Küssen! sagt ich.«


Dein Geliebter, fern, erprobet

Gleicherweis im Sauersüßen,

Fühlt ein unglücksel'ges Glück.

Euch im Vollmond zu begrüßen.

Habt ihr heilig angelobet,

Dieses ist der Augenblick.


»Ich will küssen! Küssen! sag ich.«

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 109-110.
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