[199] Stirbt 1389
Wer sich noch aus der Hälfte des vorigen Jahrhunderts erinnert, wie unter den Protestanten Deutschlands nicht allein Geistliche, sondern auch wohl Laien gefunden wurden, welche mit den heiligen Schriften sich dergestalt bekannt gemacht, daß sie als lebendige Konkordanz von allen Sprüchen, wo und in welchem Zusammenhange sie zu finden, Rechenschaft zu geben sich geübt haben, die Hauptstellen aber auswendig wußten und solche zu irgendeiner Anwendung immerfort bereit hielten, der wird zugleich gestehen, daß für solche Männer eine große Bildung daraus erwachsen mußte, weil das Gedächtnis, immer mit würdigen Gegenständen beschäftigt, dem Gefühl, dem Urteil reinen Stoff zu Genuß und Behandlung aufbewahrte. Man nannte sie bibelfest, und ein[199] solcher Beiname gab eine vorzügliche Würde und unzweideutige Empfehlung.
Das, was nun bei uns Christen aus natürlicher Anlage und gutem Willen entsprang, war bei den Mahometanern Pflicht: denn indem es einem solchen Glaubensgenossen zum größten Verdienst gereichte, Abschriften des Korans selbst zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen, so war es kein geringeres, denselben auswendig zu lernen, um bei jedem Anlaß die gehörigen Stellen anführen, Erbauung befördern, Streitigkeit schlichten zu können. Man benannte solche Personen mit dem Ehrentitel Hafis, und dieser ist unserm Dichter als bezeichnender Hauptname geblieben.
Nun ward gar bald nach seinem Ursprunge der Koran ein Gegenstand der unendlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit zu den spitzfindigsten Subtilitäten, und indem er die Sinnesweise eines jeden aufregte, entstanden grenzenlos abweichende Meinungen, verrückte Kombinationen, ja die unvernünftigsten Beziehungen aller Art wurden versucht, so daß der eigentlich geistreiche, verständige Mann eifrig bemüht sein mußte, um nur wieder auf den Grund des reinen, guten Textes zurückzugelangen. Daher finden wir denn auch in der Geschichte des Islam Auslegung, Anwendung und Gebrauch oft bewundernswürdig.
Zu einer solchen Gewandtheit war das schönste dichterische Talent erzogen und herangebildet; ihm gehörte der ganze Koran, und was für Religionsgebäude man darauf gegründet, war ihm kein Rätsel. Er sagt selbst:
Durch den Koran hab ich alles,
Was mir je gelang, gemacht.
Als Derwisch, Sofi, Scheich lehrte er in seinem Geburtsorte Schiras, auf welchen er sich beschränkte, wohlgelitten und geschätzt von der Familie Mosaffer und ihren Beziehungen. Er beschäftigte sich mit theologischen und grammatikalischen Arbeiten und versammelte eine große Anzahl Schüler um sich her.[200]
Mit solchen ernsten Studien, mit einem wirklichen Lehramte stehen seine Gedichte völlig im Widerspruch, der sich wohl dadurch heben läßt, wenn man sagt: daß der Dichter nicht geradezu alles denken und leben müsse, was er ausspricht, am wenigsten derjenige, der in späterer Zeit in verwickelte Zustände gerät, wo er sich immer der rhetorischen Verstellung nähern und dasjenige vortragen wird, was seine Zeitgenossen gerne hören. Dies scheint uns bei Hafis durchaus der Fall. Denn wie ein Märchenerzähler auch nicht an die Zaubereien glaubt, die er vorspiegelt, sondern sie nur aufs beste zu beleben und auszustatten gedenkt, damit seine Zuhörer sich daran ergetzen, ebensowenig braucht gerade der lyrische Dichter dasjenige alles selbst auszuüben, womit er hohe und geringe Leser und Sänger ergetzt und beschmeichelt. Auch scheint unser Dichter keinen großen Wert auf seine so leicht hinfließenden Lieder gelegt zu haben, denn seine Schüler sammelten sie erst nach seinem Tode.
Nur wenig sagen wir von diesen Dichtungen, weil man sie genießen, sich damit in Einklang setzen sollte. Aus ihnen strömt eine fortquellende, mäßige Lebendigkeit. Im Engen genügsam, froh und klug, von der Fülle der Welt seinen Teil dahinnehmend, in die Geheimnisse der Gottheit von fern hineinblickend, dagegen aber auch einmal Religionsübung und Sinnenlust ablehnend, eins wie das andere; wie denn überhaupt diese Dichtart, was sie auch zu befördern und zu lehren scheint, durchaus eine skeptische Beweglichkeit behalten muß.
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