Zweiter Auftritt

[41] OREST aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend.

Noch einen! reiche mir aus Lethes Fluten

Den letzten kühlen Becher der Erquickung!

Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen

Hinweggespült; bald fließet still mein Geist,

Der Quelle des Vergessens hingegeben,

Zu euch, ihr Schatten, in die ew'gen Nebel.

Gefällig laßt in eurer Ruhe sich

Den umgetriebnen Sohn der Erde laben! –

Welch ein Gelispel hör' ich in den Zweigen,

Welch ein Geräusch aus jener Dämmrung säuseln? –

Sie kommen schon, den neuen Gast zu sehn!

Wer ist die Schar, die herrlich miteinander

Wie ein versammelt Fürstenhaus sich freut?

Sie gehen friedlich, Alt' und Junge, Männer

Mit Weibern; göttergleich und ähnlich scheinen

Die wandelnden Gestalten. Ja, sie sind's,

Die Ahnherrn meines Hauses! – Mit Thyesten

Geht Atreus in vertraulichen Gesprächen,[41]

Die Knaben schlüpfen scherzend um sie her.

Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch?

Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne?

So bin auch ich willkommen, und ich darf

In euern feierlichen Zug mich mischen.

Willkommen, Väter! euch grüßt Orest,

Von euerm Stamme der letzte Mann;

Was ihr gesät, hat er geerntet:

Mit Fluch beladen, stieg er herab.

Doch leichter trägt sich hier jede Bürde:

Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis!

Dich, Atreus, ehr' ich, auch dich, Thyesten:

Wir sind hier alle der Feindschaft los.

Zeigt mir den Vater, den ich nur einmal

Im Leben sah! – Bist du's, mein Vater?

Und führst die Mutter vertraut mit dir?

Darf Klytämnestra die Hand dir reichen,

So darf Orest auch zu ihr treten

Und darf ihr sagen: Sieh deinen Sohn!

Seht euern Sohn! Heißt ihn willkommen.

Auf Erden war in unserm Hause

Der Gruß des Mordes gewisse Losung,

Und das Geschlecht des alten Tantalus

Hat seine Freuden jenseits der Nacht.

Ihr ruft: Willkommen! und nehmt mich auf!

O führt zum Alten, zum Ahnherrn mich!

Wo ist der Alte? Daß ich ihn sehe,

Das teure Haupt, das vielverehrte,

Das mit den Göttern zu Rate saß.

Ihr scheint zu zaudern, euch wegzuwenden?

Was ist es? Leidet der Göttergleiche?

Weh mir! es haben die Übermächt'gen

Der Heldenbrust grausame Qualen

Mit ehrnen Ketten fest aufgeschmiedet.[42]


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 41-43.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Iphigenie auf Tauris
Lektürehilfen Johann Wolfgang von Goethe
Iphigenie auf Tauris.
Iphigenie auf Tauris: Reclam XL - Text und Kontext
Klassische Schullektüre, Iphigenie auf Tauris
Iphigenie auf Tauris: Ein Schauspiel. Leipzig 1787 (Suhrkamp BasisBibliothek)

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon