Sechster Auftritt

[73] Nichte, nachher der Ritter.


NICHTE das Billett lesend. »Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen und freue mich unendlich darüber. Schon habe ich Sie im stillen beklagt; in wenig Minuten bin ich bei Ihnen« –

O Gott, was will das heißen?

»Bis morgen früh kann ich meiner Ungeduld nicht gebieten. In Ihrem Quartier hab ich eine Zeitlang gewohnt und besitze noch durch einen Zufall den Hauptschlüssel. Ich eile nach Ihrer Garderobe; sein Sie ohne Sorgen, es soll mich niemand entdecken, und verlassen Sie sich in jedem Sinn auf meine Diskretion.«

Ich bin in der entsetzlichsten Verlegenheit! Er wird mich in diesen Kleidern finden! Was soll ich sagen?

RITTER der aus der Garderobe tritt. Sie verzeihen, daß ich eile; wie hätt ich diese Nacht ruhig schlafen können?

NICHTE. Mein Herr –[73]

RITTER sie scharf ansehend. Wie find ich Sie verändert? Welcher Aufputz! Welche sonderbare Kleidung! Was soll ich dazu sagen?

NICHTE. O mein Herr! ich hatte Sie jetzt nicht vermutet. Entfernen Sie sich, eilen Sie! Meine Tante erwartet mich diesen Augenblick. Morgen früh –

RITTER. Morgen früh wollen Sie mir vertrauen, und heute nicht?

NICHTE. Ich höre jemand kommen, man wird mich rufen.

RITTER. Ich gehe, sagen Sie nur: was stellt das Kleid vor?

NICHTE. O Gott!

RITTER. Was kann das für ein Vertrauen sein, wenn Sie mir diese Kleinigkeit verschweigen?

NICHTE. Alles Vertrauen hab ich zu Ihnen, nur – das ist nicht mein Geheimnis. Dieses Kleid –

RITTER. Dieses Kleid ist mir merkwürdig genug. Einigemal hat sich die Prinzessin in einem solchen Kleide sehen lassen. Selbst heute haben Ihnen die Geister die Fürstin in diesem Kleide gezeigt, und nun find ich Sie –

NICHTE. Rechnen Sie mir diese Maskerade nicht zu.

RITTER. Welche entsetzliche Vermutungen?

NICHTE. Sie sind wahr.

RITTER. Die Geisterszene?

NICHTE. War Betrug.

RITTER. Die Erscheinungen?

NICHTE. Abgeredet.

RITTER. O ich Unglücklicher! O hätten Sie mir ewig geschwiegen! Hätten Sie mir den süßen Irrtum gelassen! Sie zerstören mir den angenehmsten Wahn meines Lebens!

NICHTE. Ich habe Sie nicht berufen, Ihnen zu schmeicheln, sondern Sie als einen edeln Mann um Rettung und Hülfe anzuflehn. Eilen Sie, entfernen Sie sich! Wir sehen uns morgen wieder. Verschmähen Sie nicht ein unglückliches[74] Geschöpf, das nach Ihnen wie nach einem Schutzgott hinaufsieht!

RITTER. Ich bin verloren! Auf ewig zugrunde gerichtet! Wüßten Sie, was Sie in diesem Augenblick mir geraubt haben, so würden Sie zittern; Sie würden mich nicht um Mitleid anflehn. Ich habe kein Mitleid mehr! Den Glauben an mich selbst und an andre, an Tugend, Unschuld, an jede Größe und Liebenswürdigkeit haben Sie mir entrissen. Ich habe kein Interesse mehr, und Sie verlangen, daß ich es an Ihnen nehmen soll? Meine Zutraulichkeit ist auf das schändlichste mißhandelt worden, und Sie wollen, daß ich Ihnen trauen soll? Ihnen, einer doppelten, dreifachen Schauspielerin? Welch ein Glück, daß ich diesen Abend hieher kam und Ihnen nicht Zeit ließ, sich vorzubereiten, die Maske anzulegen, mit der Sie auch mich zu hintergehen dachten!

NICHTE. Ich bin ganz unglücklich! Eilen Sie! Entfernen Sie sich! Man kommt!

RITTER. Ich gehe, Sie nie wiederzusehen!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 73-75.
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