Der Morgenstern

[68] Woher so früeih, wo ane scho,

Her Morgestern, enanderno

in diner glitzrige Himmelstracht,

in diner guldige Lockepracht,

mit dinen Auge chlor und blau

und sufer gwäschen im Morgetau?

Hesch gmeint, de seisch elleinig do?

Nei weger nei, mer meihe scho!

Mer meihe scho ne halbi Stund;

früeih ufsto isch de Gliedere gsund,

es macht e frische, frohe Mut,

und d'Suppe schmeckt eim no so gut.

's git Lüt, sie dose frili no,

sie chönne schier nit use cho.

Der Mähder und der Morgestern

stöhn zitli uf, und wache gern,

und was me früeih um Vieri tut,

das chunnt eim znacht um Nüni gut.

Und d'Vögeli sin au scho do,

sie stimmen ihri Pfifli scho,

und uffem Baum und hinterm Hag

seit eis im andere Gute Tag!

und 's Turteltübli ruukt und lacht,

und 's Betzitglöckli isch au verwacht.

Se helfis Gott, und gebis Gott

e gute Tag, und bhütis Gott!

Mer beten um e christlig Herz,

es chunnt eim wohl in Freud und Schmerz;

wer christli lebt, het frohe Mut:

der lieb Gott stoht für alles gut.

Weisch Jobbeli, was der Morgestern

am Himmel sucht? Me seit's nit gern!

Er wandle imme Sternli no,

er cha schier gar nit vonnem lo.[69]

Doch meint si Mutter, 's müeß nit si,

und tut en wie ne Hüenli i.

Drum stoht er uf vor Tag, und goht

sim Sternli no dur's Morgerot.

Er sucht, und 's wird em windeweh,

er möcht em gern e Schmützli ge,

er möcht em sagen: »I bi der hold!«

es wär em über Geld und Gold.

Do wenn er schier gar binem wär,

verwacht si Mutter handumcher,

und wenn sie rüeft enanderno,

sen isch mi Bürstli niene do.

Druf flicht sie ihre Chranz ins Hoor,

und lueget hinter de Berge vor.

Und wenn der Stern si Mutter sieht,

se wird er todesbleich und flieht,

er rüeft sim Sternli: »Bhütdi Gott!«

Es isch, as wenn er sterbe wott.

Jez Morgestern, hesch hohi Zit,

di Mütterli isch nümme wit.

Dört chunnt sie cho, was hani gseit,

in ihrer stille Herlichkeit.

Sie zündet ihre Strahlen a,

der Chilchturn wärmt si au scho dra,

und wo si fallen in Berg und Tal,

se rüehrt si 's Leben überal.

Der Storch probiert si Schnabel scho:

»De chasch's perfekt, wie gester no!«

Und d'Chemi rauchen au alsgmach;

hörsch's Mühlirad am Erlebach,

und wie im dunkle Buchewald

mit schwere Streiche d'Holzax fallt?

Was wandlet dört im Morgestrahl

mit Tuch und Chorb dur's Mattetal?

's sin d'Meidli jung, und flink und froh,

sie bringe weger d'Suppe scho,[70]

und 's Anne-Meili vornen a,

es lacht mi scho vo witem a.

Wenn ich der Sunn ihr Büebli wär,

und 's Anne-Meili chäm ungfähr

im Morgerot, ihm giengi no,

i müeßt vom Himmel abe cho,

und wenn au d'Muetter balge wott,

i chönnt's nit lo, verzeihmer's Gott!

Quelle:
Johann Peter Hebel: Gesamtausgabe, Band 3, Karlsruhe 1972, S. 68-71.
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