Erkenntnis

[149] Ein Messerschnitt. Was hilft's, sich zu belügen?

Ich seh die Welt, die anders ist als ich.

Tatsachen herrschen. Ich auch muß mich fügen

Dem, was gefügt ist unabänderlich.

Hart ist's, entzifferst du aus Menschenzügen

Durch deine Rechnung den brutalen Strich –

Doch besser ist's, Notwendiges klar erkennen,

Als blind in weichem Wahne sich verrennen.


Dank, Phantasie! Du schenkst mir aus dem Vollen

Den Wundertrank der dichterischen Welt.

Die höchste Huldigung will ich dir zollen,

Die mir der Dinge Wesen nicht entstellt.

Dein Stiefgeschwister aber mag sich trollen,

Phantastik, die mich um die Wahrheit prellt –

Ich lasse mich vom schwindlerischen Schalten

Der Seelencirce nicht zum Narren halten.


Ich will die Wahrheit unbemäntelt schauen,

Und wenn sie noch so grausam schmerzlich ist,

Zu Scheingebilden hab ich kein Vertrauen,

In seinem Trugnetz fängt sich der Sophist.

Man muß das Leben platterdings verdauen,

Wahrheit lacht jeder Taschenspielerlist,

Und unausweichlich waltet in den Dingen

Ein Schicksal, dem sich fügen freiste Schwingen ...

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 149-150.
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