Das Lied vom Bache

[263] 1768.


Traurig ein Wandrer saß am Bach,

Sah den fliehenden Wellen nach;

Ein welker Kranz umwand sein Haupt.

»Was blickst Du, Wandrer, mattumlaubt,

So traurig nieder?«


»Jüngling, den Bach der Zeit hinab

Schau' ich, in das Wellengrab

Des Lebens; hier versank es, goß

Zwei kleine Wogen, da zerfloß

Die dritte Woge.


Jüngling, im großen Zeitenraum

Schweben wir also! Der Saum

Der Menschenthaten, er zerrinnt

Auf glatter Fläche; leiser Wind

Hat ihn verwehet.


Jüngling, ein Menschenleben, schwach

Träufelt's in der Zeiten Bach.

Sie rollt, sie wölbt sich prächtig um,

Die erste Welle; sieh, wie stumm

Die dritte schweiget!«


Trübe zum Wandrer saß ich hin,

Sah die krausen Wellen fliehn,[263]

Sah Tropfen sinken in den Bach,

Die Wogenkreise sanken nach,

Mir flossen Thränen.


»Jüngling, o, Deine Ruhmesthrän'

Rinnet edel! Lieb und schön

Lacht Lebensblüth' am Morgen früh,

Und sieh, die frühen Kränze, die!

Wie sie verwelken!


Jüngling, ich war ums Vaterland,

Edler Thor, wie Du entbrannt.

Gerungen hab' ich und gelebt,

Und was errungen, was erstrebt?

Die welken Blätter.


Jüngling, o sieh, da ziehet hin

Spreu im Strom! Prächtig ziehn

Die Schäume; die Kleinode sind

Versunken. Jenes Hügels Wind

Pfeift leere Lieder.«


Traurig den Bach sah ich hinab,

Thränen träufelten ins Grab

Des Ruhmes! »Lieber Wandrer Du,

Was giebt denn Glück, was giebt denn Ruh?«

Sank ihm zum Busen.


»Jüngling, o sieh im Bache Dich!

So sah ich mit Wonne mich

Im Freunde seel- und herzvereint!

Ein Lüftchen schied uns – Bild und Freund

War fortgewehet!


Jüngling, o sieh im Bache Dich!

So sah ich mit Wonne mich

In meiner Lieben. Süßer Wahn!

Das Leben rann, das Bild zerrann

Und Glück und Liebe!


Jüngling, ich floh zu strenger Müh;

Oft, ach öfters täuschet sie.

Ich wacht' um manches edle Herz

Mit Brudertreu – mit Bruderschmerz

Sah ich's versinken!«
[264]

Trübe, verzweifelnd sah ich ab:

»Grab des Ruhmes, Tugendgrab,

Des Lebens Grab, o wärest Du

Auch meines! Läge stumme Ruh

In Deinem Abgrund!«


»Jüngling, o Thor, wo findest Du

Je in Wuth der Seele Ruh?

Wir müssen All' den Bach hinab.

Was mir, dem Jüngling, Mühe gab,

Giebt jetzt mir Labung.


Dorten hinan, wo sich's ergießt,

Wo der Strom in Wolken fließt,

Da weint man nicht der Lebenszeit;

Zum Meer der Allvergessenheit

Rann nichts hinüber.


Trinke noch immer Wonne Dir,

Jüngling, aus dem Strome hier!

Ich schöpfe meinen Labetrank,

Dem guten Gotte sag' ich Dank

Und wall' hinüber.«


Also vom Bach der Greis erstand,

Um des Jünglings Schläfe wand

Er seinen Kranz. Der Kranz erblüht',

Und immer sprach des Baches Lied

Dem Jüngling Weisheit.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 263-265.
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