Weihnachtsmarkt

[212] Welch lustiger Wald um das graue Schloß

Hat sich zusammengefunden,

Ein grünes bewegliches Nadelgehölz,

Von keiner Wurzel gebunden!


Anstatt der warmen Sonne scheint

Das Rauschgold durch die Wipfel;

Hier backt man Kuchen, dort brät man Wurst,

Das Räuchlein zieht um die Gipfel.


Es ist ein fröhliches Leben im Wald,

Das Volk erfüllet die Räume;

Die nie mit Tränen ein Reis gepflanzt,

Die fällen am frohsten die Bäume.


Der eine kauft ein bescheidnes Gewächs

Zu überreichen Geschenken,

Der andre einen gewaltigen Strauch,

Drei Nüsse daran zu henken.


Dort feilscht um ein verkrüppeltes Reis

Ein Weib mit scharfen Waffen:

Der dünne Silberling soll zugleich

Den Baum und die Früchte verschaffen!


Mit glühender Nase schleppt der Lakai

Die schwere Tanne von hinnen,

Das Zöfchen trägt ein Leiterchen nach,

Zu ersteigen die grünen Zinnen.


Und kommt die Nacht, so singt der Wald

Und wiegt sich im Gaslichtscheine;[213]

Bang führt die arme Mutter ihr Kind

Vorüber dem Zauberhaine.


Einst sah ich einen Weihnachtsbaum:

Im düstern Bergesbanne

Stand eisbezuckert auf dem Granit

Die alte Wettertanne.


Und zwischen den Ästen waren schön

Die Sterne aufgegangen,

Am untersten Ast sah ich entsetzt

Die alte Schmidtin hangen.


Hell schien der Mond ihr ins Gesicht,

Das festlich still verkläret;

Weil sie auf der Welt sonst nichts besaß,

Hatte sie sich selbst bescheret.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 212-214.
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