Die Winzerin

[295] Am sonnig edlen Gartenhaus,

Da reifet Traub an Traube,

Die sanfte Schöne tritt heraus,

Prüft sinnend ihre Laube;

Dem blauen Blick der Schönen gleicht

Der Beeren dunkle Menge,

Wohin ihr freundlich Auge reicht,

Lacht freundliches Gedränge.


Rings lockt der Trauben stille Glut

Zu Häupten und zu Füßen,

Und sie beginnt mit stillem Mut

Zu schneiden all die süßen;

Und wie sie mit der lieben Hand

Die goldnen Blätter teilet,

Im Fluge über See und Land

Schweift hin der Blick und weilet.


Wie eine reife Beere glänzt

Ihr feuchtes Aug hinüber,

Wo's blaut und leuchtet unbegrenzt

So fern, so fern herüber;

Sie lässet still und ahnungsvoll

Die schweren Trauben sinken,

Bis es in Körben reizend schwoll

Mit tausendfachem Blinken.


Sie wandelt hin und wandelt her

Geschäftig durch den Garten,

Bis all die Körbe, früchteschwer,

Gereiht der Kelter warten.

Die Kelter ist gar reich gebaut,[296]

Recht für der Schönen Hände;

Von Silber man die Spindel schaut,

Von Rosenholz die Wände.


Sie steht auf einem Marmortisch.

Die Winzerin beginnet,

Daß aus der Kelter süß und frisch

Das Blut der Traube rinnet;

Wie reg der weißen Arme Zier

Mit holder Kraft sich mühet!

Sie keltert, bis die Wange ihr

In dunklem Purpur glühet.


Sie keltert, daß der Busen fliegt

Und woget ungemessen,

Umsonst – was ihr im Sinne liegt,

Das kann sie nicht vergessen!

Umsonst – und wie die Krüge sie

Mit edlem Moste füllet:

Sie selber hat den Durst noch nie,

Das Sehnen nie gestillet.


Sie läßt den süßen Feuersaft

Verschlossen in sich gären,

In kühler Nacht zu milder Kraft,

Zum seltnen Wein verjähren;

Den trägt sie zu den Hütten hin

Wohl auf und ab im Tale,

Sie reicht der armen Wöchnerin,

Dem kranken Greis die Schale.


So keltert sie den Edelwein

Im Herbst seit manchen Jahren.

Ein Segel kommt im goldnen Schein[297]

Des Abends fern gefahren,

Ein Schifflein legt im Hafen an,

Sie hört die Schiffer singen,

Und einen hochgemuten Mann

Sieht sie ans Ufer springen.


Sie kennt ihn und sie kennt ihn nicht,

Sie starrt hinaus ins Weite,

Als es mit trauter Stimme spricht

Und grüßt schon ihr zur Seite.

Die holden Klänge mischen sich,

Das Wort hier, dort die Lieder:

»Ratlos verließ der Knabe dich,

Ein Mann kehrt dir nun wieder!


O schau, wie leuchtet's weit und breit,

Wie klar der Tag, die Stunde!

Und reif die schönste Weiblichkeit

Küßt mich von deinem Munde!«

Da ist in seine Arme hin

Sie wonnevoll gesunken,

Und weinend hat die Winzerin

Zum ersten Mal getrunken.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 295-298.
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