Unruhe der Nacht

[13] Nun bin ich untreu worden

Der Sonn und ihrem Schein;

Die Nacht, die Nacht soll Dame

Nun meines Herzens sein!


Sie ist von düstrer Schönheit,

Hat ein bleiches Nornengesicht,

Und eine Sternenkrone

Ihr dunkles Haupt umflicht.
[13]

Heut ist sie so beklommen,

Unruhig und voller Pein;

Sie denkt wohl an ihre Jugend –

Das muß ein Gedächtnis sein!


Es weht durch alle Täler

Ein Stöhnen, so klagend und bang;

Wie Tränenbäche fließen

Die Quellen vom Bergeshang.


Die schwarzen Fichten sausen

Und wiegen sich her und hin,

Und über die wilde Heide

Verlorene Lichter fliehn.


Dem Himmel bringt ein Ständchen

Das dumpf aufrauschende Meer,

Und über mir zieht ein Gewitter

Mit klingendem Spiele daher.


Es will vielleicht betäuben

Die Nacht den uralten Schmerz?

Und an noch ältere Sünden

Denkt wohl ihr reuiges Herz?


Ich möchte mit ihr plaudern,

Wie man mit dem Liebchen spricht –

Umsonst, in ihrem Grame

Sie sieht und hört mich nicht!


Ich möchte sie gern befragen

Und werde doch immer gestört,

Ob sie vor meiner Geburt schon

Wo meinen Namen gehört?
[14]

Sie ist eine alte Sibylle

Und kennt sich selber kaum;

Sie und der Tod und wir alle

Sind Träume von einem Traum.


Ich will mich schlafen legen,

Der Morgenwind schon zieht –

Ihr Trauerweiden am Kirchhof,

Summt mir das Schlummerlied!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 13-15.
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