Am Brunnen

[28] Wie strahlet ihr im Morgenschein,

Du rosig Kind, der Blütenbaum

Und dieser Brunnen frisch und rein –

Ein schönres Kleeblatt gibt es kaum.


Wie dreifach lieblich hat Natur

In euch sich lächelnd offenbart!

Aus deinem Aug grüßt ihre Spur

Des Wandrers stille Morgenfahrt.


Es ist, als käm aus deinem Mund

Das Lied, das dort die Quelle singt,

Es ist, als tät der Brunnen kund,

Was tief in deiner Seele klingt!
[28]

Und wie der weiße Apfelbaum

Mit seinen Zweigen euch umweht,

Dies Bild, zart wie ein Morgentraum,

Ist ein geschautes Frühgebet!


Reich einen Trunk, du klare Maid,

Vom Quell, der deine Kindheit sah!

Sein Rauschen sei dir allezeit,

Die Klarheit deinem Herzen nah!


Ich wünsche Segen deiner Hand

Zur Arbeit wie zum Liebesbund,

Dem brävsten Burschen hie zu Land

Das keusche Ja von deinem Mund!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 28-29.
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