Schütz im Stichfieber

[190] 1859


»Geh, gewinn mir Geld ins Haus!«

Sprach das böse Weib zum Schütz;

Er gewann, in Saus und Braus

Bracht er's durch, der gute Schütz;

Denn er dacht: Noch mancher Schuß

Bleibt mir für das böse Weib,

Bleibt mir für den Hausverdruß –

Jetzo gilt's dem Zeitvertreib!


Becher, Uhr und blankes Geld,

Alles schlug er durch, der Schütz,

Manchen Beutel leert' der Held,

Stets gewann er neu, der Schütz,

Schenkt' die Uhr der schönen Dirn

Recht zum Hohn dem bösen Weib;

In den Bechern klar und firn

Perlt' der Wein zum Zeitvertreib.


Also trieb er's Tag und Nacht,

Bis zu End das große Fest

Und die bittre Reu erwacht,

Weil er denkt ans Drachennest,[190]

Wo der böse Drach ihm haust,

Der nur Gold und Silber frißt;

Und dem guten Schützen graust,

Da er die Gefahr ermißt.


Blieb ihm noch ein Schuß zur Hand

Und noch zehn Minuten Zeit

Für den Stich ins »Vaterland« –

Ach, wie scheint die Scheibe weit!

Hell vom Tempel blinkt der Gruß

Goldgefüllter Silberschal':

Sie gewinn ich, weil ich muß,

Denn es bleibt mir keine Wahl!


Vater Tell im Himmelszelt!

Biedrer Schütz in Gottes Schoß!

Lenk dein Falkenaug zur Welt,

Hilf mir, denn die Not ist groß!

Mach den Willen fest und frei,

Reglos sicher meine Hand!

Sind die Zeiten denn vorbei,

Da man Meisterschüsse fand?


Und er schlägt bedächtlich an,

Zielet lang, der gute Schütz.

Was verwirrt ihm Sinn und Plan?

Setzt er ab, der gute Schütz?

Und er starret bleich und fremd,

Starret sprachlos nach der Scheib' –

Denn im roten Zeigerhemd

Sah er gaukeln dort sein Weib.


Niemand sah's als er allein,

Und er sieht's, sooft er zielt![191]

Macht's die Angst? ist es der Wein,

Der ihm das Gehirn bespült?

Zweimal, dreimal schlägt er an,

Zitternd stark am ganzen Leib –

Immer tanzt auf grüner Bahn

Grad im Schuß das rote Weib.


Und die Sippe kommt zur Stell,

Freunde, Vettern ringsherum,

Büchsenmeister und Gesell,

Lader, Warner grad und krumm!

Ei welch ein berühmter Schütz,

Der so viel Klienten hat,

Die ihm dienlich sind und nütz,

Jeder gibt ihm guten Rat.


Dieser untersucht das Schloß,

Jener dreht ein Schräubchen an,

Der gebietet Ruh dem Troß,

Und ein andrer spannt den Hahn,

Und der fünfte flößt ihm Mut,

Doch der sechste stellt sich bang,

Und der siebte hält den Hut

Vor den Sonnenuntergang!


Endlich doch ermannt er sich,

Zielt in Wut, der gute Schütz,

Und die Freunde, feierlich,

Sie umstehn den kühnen Schütz.

Und er sieht das böse Weib,

Schließt die Augen – sei's, weil's muß!

Und er drückt – fort ist das Weib,

Und zum Teufel ist der Schuß!
[192]

Eben dröhnt Kanonenknall,

Feierabend Schütz und Rohr!

Tausendfacher Gläserschall!

Klangvoll schließt des Tages Tor!

Klanglos mit gebeugtem Mut

Heimwärts wallt der arme Wicht –

Sich zur Freude schoß er gut:

Für den Geiz gelang's ihm nicht.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 190-193.
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