|
[182] In alter Burg auf wolk'ger Höh'
Der fromme Kaiser Ludwig saß,
Er trug im Herzen manches Weh,
Vom Schmerz er nimmermehr genas.
Wohl sang durch Waldes Einsamkeit
Mit süßem Ton die Nachtigall,
Doch nicht verscheucht des Kaisers Leid
In stiller Nacht der liebe Schall.
Wohl sah des Mondes milder Schein
Durch manchen dichtbelaubten Baum,
Der Kaiser schlief in Tränen ein,
Doch träumt' er wundersamen Traum.
Bei einem Kreuz im grünen Tal,
Da sah er einen Greisen knien,
Das Haupt bekrönt mit heil'gem Strahl,
Zu seinen Füßen Lilien blühn.
Vom Himmel eine Stimme ruft:
»Folg' ihm, er wird dein Helfer sein!«
Da ward so glänzend blau die Luft,
Aufblüht' das Tal in Duft und Schein. –
Es schwand der Traum, sein Auge war
Noch tränenschwer am lichten Tag:
Das Kind der Nacht, der Tau so klar
Auf himmelblauer Blume lag.[182]
Es schwang aufs treue Roß sobald
Der Kaiser sich und ritt zu Tal,
Die Vögel sangen hell im Wald,
Grüßend die Sonn' und ihn zumal.
Er ritt hinab vom Wolkenstein,
Also ward seine Burg genannt,
Es lag das Tal im lichten Schein,
Es stand so segenreich das Land.
Jetzt sah er fern drei Lilien blühn,
Sie warfen milden Schein ins Tal!
Er sah beim Kreuz den Heil'gen knien,
Sein Haupt bekrönt mit Himmelsstrahl.
Da sprang er von dem treuen Roß,
Eilt fröhlich auf den Greisen zu,
Goß allen Schmerz in seinen Schoß,
Und schon erfühlt' er alte Ruh'.
»Trag ab den Wolkenstein zur Stund'« –
Also der heil'ge Waldrich sprach –
»Stell' eine Kirch' in Tales Grund,
Und denk' an des Erlösers Schmach!«
Drauf schwand dahin der heil'ge Greis,
Ihn fand nicht mehr des Kaisers Blick,
Doch blieben die drei Lilien weiß,
Doch blieb das Kreuz im Tal zurück.
Der fromme Ludwig ließ sobald
Abtragen seinen Wolkenstein,
Er setzt' ihn aus dem düstern Wald
Zu Tal in Mond- und Sonnenschein.
Zur Kirche ward er umgebaut.
Beim Kreuze kniet von dieser Zeit
Duldsam der Kaiser, bald vertraut
Mit des Erlösers höherm Leid.
Buchempfehlung
Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.
546 Seiten, 18.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro