|
[64] In eines Schlosses Fraungemach
Hing ein uralter Spiegel,
Jetzt hält man ihn dort unterm Dach
Fest unter Schloß und Riegel.
Was mit demselben Spiegel sich
Voreinst hat zugetragen,
Das will ich, ist's auch fürchterlich,
Euch im Vertrauen sagen:
Sobald schlug Mitternacht die Stund',
Aufsprang von jenem Zimmer
Die Türe, und des Spiegels Rund
Ward hell wie Mondenschimmer.[65]
Dann aus dem Spiegel sah heraus
Ein Bild, starr, bleich, entsetzlich,
Wer's sah, den packte Frost und Graus,
Daß er zurücksprang plötzlich.
Wer war das? Eine Frau war das,
Stolz, eitel, ohne Frieden;
Bewundernd sich im Spiegelglas,
Ist sie vor ihm verschieden.
Verscheidend sprach zur Kammerfrau
Sie noch: »Färb' meine Haare,
Damit ich nicht zur Schau so grau
Lieg' in der Totenbahre.
Auch mach' vor der Ausstellungsstund'
Mir meinen Mund doch feiner,
Drück' sanft ihn mit dem Finger rund,
Dann wird er wohl auch kleiner.«
Sie wollte sprechen weiter noch,
Ich glaub' von einem Mieder,
Ich glaub' von falschen Zähnen, – doch
Da sank sie tot darnieder.
Die Dienerin hat nicht getan,
Was Eitelkeit begehrte,
Zum Spiegel jede Nacht sodann
Die Tote wiederkehrte.
Sie wollte färben die Frisur,
Wollt' suchen Zähn' und Mieder;
Doch schrie der Hahn, – schwand ohne Spur
Sie aus dem Spiegel wieder.
Gar viel man von der Geistin sprach
In jenem alten Spiegel,
Drum ließ der Schloßvogt unters Dach
Ihn bringen unter Riegel.
Schnell hab' ich diese Unnatur,
Zu mir heraufgekommen,
Einen Totenkopf auf der Frisur,
Klecksographisch aufgenommen.
Buchempfehlung
Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.
246 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro