Fünfte Vorstellung.

[100] »Eine Geschichte, welche von einer Waldfrau handelt,« sprach der Mann, »ist die des Grafen Otto von Oldenburg.«

Ich bat ihn, dieselbe zu erzählen, und er begann also:

»Es begab sich, daß Graf Otto von Oldenburg sich auf eine Zeit mit seinen Edelleuten und Dienern auf die Jagd begeben und am Bernefeuersholze gejaget, er, der Graf, selbst auch ein Reh geheget und demselben bis an den Osteberg allein nachgerennt und mitten auf dem Berge gehalten; spricht er bei sich selber, weil eine große Hitze war: ›Ach Gott! wenn ich nur einen kühlen Trunk hätte!‹ Tut sich der Osteberg, als der Graf dies Wort gesprochen, auf und kommt aus der Kluft eine schöne Jungfrau, wohlgezieret, mit schönen Kleidern angetan, auch schönen, über die Achsel geteilten Haaren und einem Kränzlein darauf und hatte ein köstlich golden Geschirr in Gestalt eines Jägerhorns, mit vielen seltsamen unbekannten Schriften und künstlichen Bildern geziert, in der Hand. Solch Geschirr hat sie dem Grafen in die Hand gegeben und gesprochen, daß der Graf daraus trinken solle, sich damit zu erquicken. Da nun der Graf dasselbe Horn von der Jungfrau genommen, aufgetan und hineingeschaut, da hat ihm der Trunk, der darinnen gewesen, nicht gefallen, und derhalb hat er sich geweigert, denselben zu trinken. Worauf aber die Jungfrau gesprochen: ›Mein lieber Herr! trinket nur auf meinen Glauben; denn es wird Euch keinen Schaden bringen, sondern zum besten gereichen.‹ Mit fernerer Anzeige: wo er daraus trinken wolle, sollte es ihm und dem folgenden Haus Oldenburg wohlergehen und die ganze Landschaft zunehmen und ein Gedeihen haben; wenn aber der Graf ihr keinen Glauben zustellen, noch daraus trinken wollte, so sollte im nachfolgenden oldenburgischen Geschlecht keine Einigkeit bleiben.

Da nun der Graf auf solche Red' keine Acht gegeben, hat er das Horn in der Hand behalten und hinter sich geneigt und ausgegossen, und als von dem Trank etwas auf das weiße Pferd gespritzt, sind demselben die Haare davon abgegangen. Die Jungfrau, als sie solches gesehen, hat das Horn wiederbegehret;[100] aber der Graf ritt mit ihm den Berg ab und ersahe noch im Umschauen, wie die Jungfrau wieder in den Berg gegangen. Darüber ist ihm ein Schrecken angekommen, hat seinem Pferde die Sporen angesetzt und ist in schnellem Laufe zu seinen Dienern geeilt und hat denselben erzählt, was sich ereignet, und ihnen das Horn gezeigt. Dasselbe Horn, weil es so wunderbarlich gestaltet, ist von ihm und allen folgenden Herren des Hauses Oldenburg für ein köstlich Kleinod gehalten worden, wird auch noch heutigen Tages zu Oldenburg verwahret, wie ich es selbst alldort oft gesehen.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 100-101.
Lizenz:
Kategorien: