Sechstes Kapitel.

[21] Seit dem Verschwinden Serpentins fühlte Sililie einen Schmerz in sich, den sie sich selbst nicht zu deuten wußte. Sie sahen und sprachen einander im Waldgebirge nur selten, aber ein jedes hatte das andere, ohne es sich gerade zu sagen, warm und befreundet in sich getragen. Eines Tages kam sie mit großer Freude zu Lambert gelaufen und versicherte ihn, daß sie gewiß wisse, daß Serpentin ihrer recht sehr denke. Von da an nannte sie öfters seinen Namen, saß gern auf der Stelle, wo er gesessen, und berührte oft seine zurückgelassenen Gewande.

Lambert hatte einen uralten Becher von Kristall, er merkte, wie Sililie sich öfters mit diesem in ein einfaches Gemach schlich. Einsmals ging er ihr insgeheim nach und sah, wie sie dasaß und starr in den Grund des Glases schaute. Sie schien ihn nicht zu bemerken oder seine Tritte zu vernehmen. »Was machst du, meine Tochter?« sprach er. »Ich sehe Serpentin in diesem Glase,« sprach sie; »da sitzt er im Waldgebirge im Zimmer eines Wirtshauses; ich fühle, daß er meiner sehr denkt.«

Von da an verschloß Lambert das alte Glas, daß es Sililie nicht mehr vorfand; denn aus Sorgfalt für ihre Gesundheit wollte er verhüten, daß das ihr angeborene wunderbare Ahnungsvermögen gesteigert würde.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 21.
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