Der Trunkenbold und seine Frau

[55] Sein Laster hat jeder und gibt es nicht auf,

Kein Mittel kann je ihn befreien,

Beschämung und Furcht nimmt er gerne in Kauf,

Selbst Verhöhnung und Teufeleien.

Und weil man nicht gern auf ein Beispiel verzichtet,

So sei euch ein solches berichtet.


Ein Trunkenbold liebte das Trinken so sehr,

Daß er Geist und Gesundheit vernichtet;

Natürlich war auch seine Börse stets leer,

Denn dem Trinker bedeutet der Mammon nicht mehr,

Als daß er ihn Bacchus entrichtet,

Und Bacchus zu opfern, reut niemanden eh’r,

Als bis er zugrundegerichtet.

Als einmal der Säufer beim Safte der Reben

Den Rest von Verstand dahingegeben,

Da sperrte sein Weib, um ihn gründlich zu strafen,

In grausige Gruft den Trunkenbold ein.

Nachdem er dort seinen Rausch verschlafen

Und nüchtern erwachte, erblickt er den Schein

Vom Totenlämpchen und Totengebein,

Und ihn selber hüllte ein Leichentuch ein.

»Oh,« spricht er ergriffen, »was ist denn geschehn?

Soll mein Weib schon so jung als Witwe sich sehn?«

Da tritt als Furie verkleidet

Seine Frau ins Gewölbe und geht zu ihm hin

Und reicht ihm, indem seine Blicke sie meidet,

Eine Schüssel mit Speise darin.

Nun ist der Gatte durchaus überzeugt,

Er sei in der Hölle gefangen.

»Wer bist du?« so fragt er mit Bangen.[56]

Und sie, indem sie sich zu ihm beugt:

»Die Speisemeisterin im Reich

Des Höllenherrn, und ich bringe zu essen

Den Toten, die böser Schuld sich vermessen,

Den Ausgestoßenen des Lichts –.«

Da fällt der Gatte ins Wort ihr gleich:

»Und zu trinken bringst du mir nichts?«

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 55-57.
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