Die Pest unter den Tieren

[125] Ein Übel, schreckhaft, wo es je erstand,

Ein Übel, das des Himmels Zorn erfand,

Der Erde Übeltun zu rächen,

Die Pest (kaum wag ich's auszusprechen),

Sie, die den Acheron so schnell bereichern kann,

Fiel kriegerisch die Tiere an.

Nicht alle starben, aber alle wurden krank:

Nicht einer, der noch sorgte, daß er aß und trank.

Kein Mahl erregte ihre Gier,

Nicht Wolf noch Fuchs umspähten mehr

Das unschuldvolle Beutetier.

Die Turteltauben flogen unstet hin und her,

Sie suchten keine Liebe, keine Freude mehr.


Der Leu hielt Rat und sprach: »Ich glaub es zu erfassen:

Ob unsrer Sünden groß und schwer

Hat diese Pein der Himmel zugelassen.

Drum säume unser größter Sünder nicht,

Dem Zorn des Himmels sich als Sühne anzutragen.

Vielleicht daß dies die Härte unsrer Strafe bricht.

Ihr wißt ja, daß man oft in ähnlich schlimmen Lagen

Solche Ergebenheitsbeweise brachte.

Bekennt euch also. Jeder hier betrachte

Ganz ohne Nachsicht sein Gewissen.

Was mich betrifft: fiel mich der Hunger an,

So hab ich oft ein Schaf zerrissen,

Das nicht das kleinste mir zuleid getan;

Und hie und da geschah's,

Daß ich sogar den Hirten aß.[126]

Ich will mich opfern, wenn es nötig ist.

Doch scheint mir’s richtig, daß erst jedermann ermißt,

Ob nicht noch schwerer wiegt sein eignes Sündenmaß,

Da es gerecht ist, daß der größte Sünder stirbt.«

»Oh, unser guter König,« rief der Fuchs darauf,

»Der hier wie immer unser aller Lob erwirbt!

Doch, Herr, Ihr fraßt nur Schafe, dummen Pöbel auf –

Wie könnt Ihr denken, daß dies eine Sünde wäre?

Nein, nein! Indem Ihr sie zu Eurem Mahl ergrifft,

Erwiest Ihr ihnen hohe Ehre.

Und was den Hirten anbetrifft,

Der war gewiß des Todes wert,

Da er zu jenen Leuten ja gehört,

Die sich in ihrem Hochmut oft so weit vergaßen,

Sich über uns, die Tiere, Rechte anzumaßen.«

So sprach der Fuchs. Die Schmeichler pflichteten ihm bei.

Man wagte auch dem Tiger, Bär und andern Großen

Nicht nachzuweisen, daß ihr Rauben sündhaft sei.

Man scheute sich, die starken Frevler zu erbosen,

Sie alle bis zum Hofhund hieß man heilige Leute.

Nun kam der Esel an die Reih:

»Ich kam an einer Klosterwiese einst vorbei.

Die zarten Gräser, die Gelegenheit zur Beute,

Der Hunger und, ich glaube, irgendwelcher Teufel

Verführten mich, den grünen Rasen

Auf Zungenbreite abzugrasen.

Da tat ich unrecht – ohne Zweifel.«

»O Schmach!« schrie man den Esel an.

Und ein gerißner Wolf bewies mit vielen Phrasen,

Die Pest sei darum da, um diese Tat zu rächen,

Das räudige Eselsvieh allein sei schuld daran.[127]

Die kleine Sünde ward der Strafe wert ermessen.

Welch ein empörendes Verbrechen:

Der andern Leute Gras zu fressen!

Der Tod nur sühnte solche Tat des Bösewichts.

Das zeigte man ihm gar geschwind.


Ganz je nachdem, wie mächtig oder schwach wir sind,

Macht weiß uns oder schwarz das Urteil des Gerichts.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 125-128.
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