Der Löwe

[196] Einst hatte Sultan Leopard, so geht die Kunde,

In seinen Wiesen viele Schaf und Rinder,

In seinen Wäldern Hirsch und Reh nicht minder –

Kurzum, er war der größte Herr in weiter Runde.

Im Nachbarwalde ward ein Leu geboren.

Der Sultan rief den Fuchs, den alten Praktikus,

Den er sich zum Vezir erkoren,

Und sagte: »Unsre Nachbarschaft macht dir Verdruß,

Du fürchtest diesen Löwenknaben;

Der Alte starb, was kann ein Kind uns tun?

Du solltest Mitleid mit dem Waisenknaben haben,

Denn das Regieren gönnt ihm nicht zu ruhn.

Er wird dem Schicksal danken, wenn er halten kann

Das, was er hat; und sicher denkt er nie daran,

Gar auf Eroberungen auszuziehn.«

Da sprach der Fuchs, dem diese Meinung haltlos schien:

»Herr, solcher Waise wein ich keine Tränen.

Man muß um seine Freundschaft sich bemühn,

Wenn nicht, so mache man alsbald unschädlich ihn,

Eh er, erwachsen, uns mit Krallen und mit Zähnen

Zu unserm Schaden überfällt.

Verliert nicht einen Augenblick!

Ich hab sein Horoskop gestellt:

Das zeigte mir sein Schlachtenglück.

Der beste Löwe rings auf Erden

Wird er für seine Freunde sein.

Darum versucht, sein Freund zu werden,

Wenn nicht, so schwächet ihn, so lange er noch klein.«

Umsonst die Warnung, die den Herrn zum Handeln rief.[197]

Der Sultan schlief, und jedermann im Lande schlief –

Bis schließlich aus dem Löwenjungen

Ein wahrer Leu geworden war.

Jetzt sind die Glocken rings erklungen,

Der Aufruhr tobt, man sieht Gefahr.

Besorgt befragt man den Vezir.

Der seufzt und sagt: »Was wollet ihr?

Nicht tausend Mannen helfen hier.

Ruft nicht nach Hilfe ringsumher,

Es kostet euch nur unnütz mehr.

Ich halte Helfer nur für gut,

Euch eure Hammel aufzuessen.

Versöhnt den Leu, beschwichtigt seine Wut.

Ihn zu bekriegen, wäre zu vermessen,

Er übertrifft an Kraft uns und die andern alle,

Die hier verzehren würden unser Gut.

Er spottet jeder Macht und jeder Falle.

Nur drei Verbündete hat er auf Posten,

Sie heißen Stärke, Wachsamkeit und Mut –

Drei große Helfer, die ihn keinen Heller kosten.

Werft ihm sogleich ein Schaf in seine Krallen,

Genügts ihm nicht, so eilt und tut

Noch mehr hinzu, auch Rinder stramm und fest,

Und wählt die fettesten von allen.

So rettet ihr für uns den Rest.«

Der Rat des Fuchses fand kein Wohlgefallen –

Dem Sultan zum Verderb und manchem Nachbarstaat,

Der folgte seinem Heeresbann;

Denn was auch dieser Bund von Feinden alles tat,

Der, den sie fürchteten, gewann.


Den Löwen macht als Freund euch hold,

Wenn ihr ihn wachsen lassen wollt.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 196-198.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln, Sonderausgabe
Sämtliche Fabeln.
Hundert Fabeln

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon