[73] Es war einige Tage darauf, als Valerius in seinen Mantel gehüllt durch die Straßen von Warschau strich. Der Mondschein lag mit seinen weichen Blicken über der Stadt, wie eine süße Trauer oder wie eine wehmütige Freude. Die äußeren Dinge fügen sich ja nachgiebig unseres Herzens Wünschen, wir lesen unser Herz in ihren Blicken, und demselben Lichte jauchzt der eine wie einer Hochzeitsleuchte entgegen, während der andere eine Begräbnisfackel darin zu sehen glaubt. Darum sagen manche Leute, es sei nichts wirklich als unser Gedanke.
Auch Valerius dachte so. »Wozu quält man sich mit den Äußerlichkeiten,« sprach er in seinem trüben Sinne, »unser eigensinniges Herz macht ja doch daraus, was es will. Wozu trachten wir unablässig, Geschichte zu machen, da wir doch nur kleinen Kindern gleichen, die mit lächerlicher Mühe und Sorgfalt ihr Kartenhäuschen aufbauen – ein leichter Windzug wirft es um. Und wir wissen es nicht, von wannen der Wind kam, noch wohin er geht.
Ist es denn wirklich größer, ein Held zu sein, Nationen zu bewegen, Völkerschicksale gestalten zu helfen, als daheim zu bleiben bei den Seinen und ihrem kleinen Glücke, ihren[73] unscheinbaren Freuden Kraft und Tätigkeit zu widmen? Haben die sogenannten Philister nicht am Ende recht, daß wir uns um keine anderen Dinge kümmern sollen, als um jene, die uns zunächst betreffen? Während ich kämpfe und ringe für eines Volkes Freiheit, weil ich den Begriff der Freiheit für etwas Großes halte, verschmachten vielleicht die Meinen in Angst und Mangel und Kummer – ist denn nun auch wirklich dieser Begriff der Freiheit größer als alle anderen? Ist es tugendhaft, alles andere darüber zu vernachlässigen?
Großer Gott! im nächsten Jahrzehnt ist die Entwicklung der Menschen vielleicht in ganz anderen Kreisen, und mein Treiben ist in den Augen der Erleuchtetsten ein törichtes geworden, und das sogenannte Heldentum ist eine moralische Karikatur!
Und wenn das alles, was ich da denke und zweifle, Ausgeburten meines kranken Leibes sind, warum ist die Welt so schwankend, daß sie immer nur aussieht, wie ich sie haben will?«
Dabei war er immer lebhafter hingeschritten durch die Straßen, und war ohne seinen Willen auf die Weichselbrücke gekommen. Eine große Wasserfläche übt stets einen tiefen Eindruck auf das menschliche Herz: das Wasser erscheint uns wie ein unparteiisches Element neben den anderen irdischen Stoffen, teilnahmslos sieht es wie ein großes ewiges Auge auf den Vorübergehenden, und das Schiff und der Schwimmer und der Sturm berühren nur seine Masse, sein Leben ist nicht zu treffen: es mag darüber hingezogen sein, was da will, dasselbe ewige Auge mit seiner Unerforschlichkeit kehrt immer wieder. Wie schweigende Gottheiten gehen die Wasserflächen an unserem Treiben vorüber, und es bedünkt uns manchmal, als wohnte die tiefste Weisheit in ihnen, und als würden wir sie wiederfinden in einem andern Leben, wo sie unbefangen alles erzählen, was auf dieser Erde vorgegangen[74] ist, die einzigen unbeteiligten Historiker neben den Sternen. Die Sterne können nämlich nur von den heiteren Tagen erzählen; wenn Nebel und Wolken über der Erde liegen, da sehen sie nichts, und sie steigen dann in der nächsten klaren Nacht herab in die Wasserfluten, um sich erzählen zu lassen, was unterdes passiert sei.
In solchen Träumereien schaukelte sich Valerius' Geist, während er am Brückengeländer lehnte und in die murmelnden Wellen hinabsah, mit denen der Mond und die Sterne hin und her fahrend verkehrten. Die schweigende Natur mit ihrer Ewigkeit in den Zügen übte, wie immer, ihre volle Kraft der Beruhigung auf sein Herz, man glaubt dann unmittelbar vor dem Auge Gottes zu stehen, und die Welt schweigt im Menschen.
Es war auch ein schöner Platz damals auf der Brücke, die nach Praga hinüberführt: auf der einen Seite die Festung, welche vor dem Feinde sichert, unter sich den breiten glänzenden Strom, auf der andern Seite die stolzen Paläste, deren lichte Fenster der Weichsel erzählten, wie die Polen alle wieder daheim seien, wie die Freude wieder angesiedelt werde in jenen so lange schweigenden, glanzlosen Häusern. Aus der Stadt her schallte Musik und Gesang, und das Herz des traurigen Valerius mußte endlich aufgehen in milderen Gedanken und Empfindungen.
Es fiel ihm ein, daß er auf dem Wege zum Grafen Kicki gewesen sei, der ihn zum Ball geladen, er hoffte fröhliche Menschen zu sehen, und ging eiligst zurück nach der Stadt.
In einer engen Gasse sah er eine lichte Hausflur, und fröhliche junge Männergestalten, bald in schmutzige Schafpelze, bald in glänzende Uniformen gekleidet, gingen ein und aus; die ganze Straße hallte wider von patriotischen Gesängen der Ab- und Zugehenden. Er blieb einen Augenblick stehen, und es schien ihm, als sähe er Magyac eintreten. Neugierig ging er ihm nach und erblickte sich bald in einem großen[75] Saale, in welchem sich zahlreiche Gruppen von Männern befanden. Der Raum war spärlich beleuchtet, und das bunte Durcheinander von lauter männlichen Gestalten, die mit etwas gedämpfter Stimme, aber größtenteils rasch und heftig sprachen, machte einen wunderlichen Eindruck.
Valerius drückte sich in eine dunkle Ecke. Er wollte versuchen, ob er sich in diesem ihm ganz neuen Elemente zu orientieren vermöchte. Dicht neben ihm stand eine Gruppe Bauern, sie sprachen leise und unverständlich. In seine Nähe drängte sich ein Mann, bis an die Nase in den Mantel gehüllt, die Mütze hatte er tief in die Augen gezogen – es entstand eine Bewegung im Saale, und auf einer Art Tribüne im Hintergrunde desselben erschien eine Figur. Ein stürmisches Beifallsrufen drang aus mehreren Gruppen, die meistenteils aus Offizieren und jungen Männern bestanden, welche, in feinen Zivilkleidern, den gebildeten Ständen anzugehören schienen. Die Bauern neben Valerius sahen neugierig nach der Tribüne, als wäre ihnen die Erscheinung völlig neu und unbekannt. Der Redner – denn als solchen gab er sich bald kund – war eine schmale, hohe Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet; auf dem Kopfe trug er ein Käppchen von eben dieser Farbe, und sein ganzes Ansehen gewann dadurch etwas Klerikalisches. Die Haltung des Körpers schien von Sorgen oder Studien gebeugt zu sein – da die Gegend, in welcher sich der Redner befand, heller beleuchtet war, als die Tiefe des Saales, so konnte Valerius die Gesichtszüge genau unterscheiden. Es lagen tiefe geheimnisvolle Furchen in dem magern blassen Antlitze, die Nase war spitz und scharf geformt, und die tiefliegenden Augen waren still und fast ohne Bewegung, bevor der Redner zu sprechen begann. Dann aber flogen sie zuweilen hervor mit einem wie unterirdischen Feuer, zuweilen glänzten sie sanft und mild wie die Seele der wohlwollendsten Weisheit. Derselbe Wechsel spielte um den feinen Mund und dessen schmale Lippen: bald schienen[76] Pfeile des tiefsten Hasses aus den Winkeln zu fliegen, bald saß ein Lächeln darauf, das aus dem schönsten Herzen zu kommen schien und von unendlicher Liebe zeugte.
Die Stimme war sanft und äußerst wohlklingend, und der Akzent der schönste, welchen Valerius noch in Polen gehört: die schwierigsten Konsonanten zerflossen auf jenen feinen Lippen, und alles schmiegte sich in Wohlklang und Reiz. Der Redner begann mit jener anspruchslosen Einfachheit mächtiger Künstler die Geschichte Polens zu erzählen, die Stimme schien leise und schwach, und da die Erzählung mit den fernsten Jahrhunderten aushob, so fürchtete man, es werde ihr für den eigentlichen Zweck, für die Verhältnisse des Augenblicks keine Kraft übrig bleiben. Aber dieser Glaube war sehr irrtümlich. Die Stimme wurde stärker, wie ein Baum, der immer höher wächst, und so wie dieser immer breiter um sich greift mit seinen Zweigen, so schien auch diese Stimme immer tiefer in die Herzen der fernsten Zuhörer zu greifen. Es war eine Stille im Saale, daß man den Fall einer Nadel gehört hätte; auf allen Gesichtern war die höchste Spannung zu lesen. Die Bauern neben Valerius schienen kaum zu atmen, und so erreichte die Rede ihren Höhepunkt bis zum Ausbruch der neuesten Revolution, die noch mit den lebendigsten, blutvollsten Worten dargestellt wurde. Da hörte sie plötzlich auf, der Redner machte eine Pause. Der Eindruck war über jenen hinaus, wo der Beifall der Zuhörer losbrechen kann, diese waren selbst über den Raum hinausgehoben, und nicht ein Laut unterbrach die feierliche Stille.
Der Redner schien auch diese Art der Anerkennung zu verschmähen, denn mit viel schwächerem, aber noch völlig festem und gewandtem Tone sprach er nun über die neuesten Tage. Im Anfange der Rede waren dem aufmerksamen Zuhörer manche kleine unbedeutende Sätze begegnet, die mit dem folgenden in geringem oder gar keinem Zusammenhange zu stehen schienen. Sie betrafen meist die Verhältnisse der[77] niedrigsten Stände und schienen mehr nebenbei vom Redner hingeworfen zu sein, um einen Teil seiner Zuhörer, die in Schafpelzen und ohne Halstuch gekommen waren, nicht ganz leer ausgehen zu lassen. Aber all die kleinen Sätze wurden in diesem letzten Teil der Rede sorgfältig aufgehoben, zusammengerückt, über- und unterbaut, daß man plötzlich ein massives Gebäude der Volksfreiheit vor sich sah, und im ersten Augenblicke stutzig war, wie es so plötzlich fest in allen Teilen aus der Erde habe wachsen können. Es war aber in diesem Abschnitte der Rede alles so fein schattiert, so schnell und gewandt ausgedrückt, daß das Ganze wie ein Luftschloß vorübergaukelte, und der eifrige Aristokrat hätte es anhören können, ohne zum klaren Bewußtsein zu kommen, wie seine innersten Meinungen hastig mit Erde verschüttet würden. Die Argumente, die historischen Data flogen wie das Weberschifflein und die Einschlagfäden vor den Augen durcheinander, und das Gewebe war fertig, dicht und dauerhaft, ohne daß der Zuhörer Absicht und Weise hatte beachten können. Man konnte in der Stunde darauf den Redner vor Gericht ziehen, und niemand wäre imstande gewesen, anzugeben, auf diese oder diese Weise hat er die Demokratie gepredigt. Und zwischen diesem Schaffen und Bauen der Sätze und Gedanken blitzten die mächtigsten Kugeln auf gegen die Unbilden der Aristokratie; aber auf Blitz und Knall folgte eine ganz unerwartete Wendung der Rede, die scharfen Augen und Mundwinkel waren wieder sanft und glatt, man glaubte sich getäuscht zu haben, man wurde von neuen Interessen erschüttert, und ein neuer Blitz ward von noch größeren Dingen verdrängt, und die Rede schloß mit einem erschütternden Aufrufe zum Kampfe auf Leben und Tod, so daß man selbst nicht wußte, war die Stimme wieder gewachsen oder nicht, hat der Redner zuviel oder zuwenig gesagt, soll man jubeln oder trauern, hassen oder lieben. Aber durchgeschüttelt und gerüttelt, ja erschüttert war alles bis in das[78] innerste Mark, und der lang verschlossene Atem rang sich bei den meisten stöhnend an die Luft.
Der Redner war verschwunden, und Valerius fragte in der Betäubung hastig seinen verhüllten Nachbar, wer da gesprochen, obwohl es schien, als ob der Mann unter seinem Mantel nicht gestört sein wolle.
»Joachim Lelevel,« war die Antwort.
Lelevel, wiederholte Valerius vor sich hin, gleich als fände er einen alten Bekannten. In der Gruppe der Bauern ward der Name wiederholt, und sie schienen nicht weniger ergriffen zu sein von jener Rede als die Gebildeteren. Man glaubt es nicht, wie fein die geistigen Empfängnisorgane dieses Volkes sind. Die Zeit der Knechtschaft hat sie noch geschärft; wo das ganze Wort nicht erlaubt ist, da lernt man schnell das halbe verstehen – die breite prunkende Art der Rede, das rhetorische Wesen konnte nur bei den Römern entstehen, der weite Länderübermut liegt darin, und darum hat sich jene Gattung in der neueren Zeit auch vorzüglich auf die Franzosen vererbt.
Ein unterdrücktes Volk macht wenig Worte. So erklärte sich auch in diesem Augenblicke Valerius jene auffallende Erscheinung unter der Wildraufe, wo die Bauern soviel wie nichts gesagt hatten, und doch für unberufene Ohren zuviel gesagt zu haben fürchteten. Sie glaubten, auch ihre Auslassungen seien behorcht worden. Das ist ein Hauptunglück der Knechtschaft eines Volkes, daß sie die Unbefangenheit verlieren, daß sie Begriffe, welche ihnen zu sprechen verboten sind, am Ende selbst nicht auszudenken wagen, daß sie mißtrauisch werden.
Die Gedanken jener Insurgenten waren nicht einmal reif in ihnen geworden, noch weniger hatten sie etwas Vollständiges ausgesprochen, und dennoch glaubten sie zuviel gesagt, die schmerzensreiche Brust viel zu weit geöffnet zu haben. Mit dieser kranken Sagazität und Kombinationsgabe[79] des Verdachtes hatten sie aber Lelevel vollkommen verstanden.
Und es mochten wirklich größtenteils dieselben Bauern sein. Bei der Bewegung, welche nach jener Rede unter ihnen entstanden war, erblickte Valerius deutlich das wilde Gesicht des stürmischen Slodczek.
Ein anderer Redner war indessen aufgetreten: er war in der Uniform des vierten Regiments, und der Ausdruck seines Gesichts war barsch, unschön, voll Leidenschaft und schlecht verhehlten Grimmes. Er sprach mit wenig Rückhalt herben Tadel aus über die unzureichende Tätigkeit der zeitigen Regierung in Sachen des Krieges und der gesellschaftlichen Umgestaltung, verlangte durchgreifende Reformen gegen die Aristokratie des Landes auf der einen Seite und schonungslose Allgemeinheit der Bewaffnung durch alles Volk, das polnisch spräche.
Valerius ward an den Jakobinerklub in Paris erinnert, und als er den Redner verlangen hörte, daß man aufräumen müsse unter all den Leuten, an welchen der leiseste Verdacht des Russentums hafte, da stieg das blasse Angesicht des steinernen Saint-Just vor seinen Blicken auf, und jenes entsetzliche Wort suspect, suspect, das Losungswort der Schreckenszeit, schwirrte um seine Ohren.
Diese Erscheinung unumwundener Sprache bei einem allgemeinen Charakter, wie er sich eben an jenem ersten Redner und jenen insurgierenden Bauern herausgestellt hat, darf nicht verwundern. Der Mut ist keinen Gesetzen unterworfen, und jener tollkühne Mut belebte einen großen Teil der damals tätigen polnischen Jugend, die sich im vierten Regimente konzentrierte. Jener Mut übersprang selbst die national gewordenen Eigentümlichkeiten.
Diese Rede erregte einen tosenden Lärm, und sie ward eigentlich nicht zu Ende gebracht, sondern der immer höher steigende Sturm übertäubte sie – es lebe Driwiecki – der[80] Name des Redners – es lebe Polen! brauste der Lärm durcheinander, und besänftigte sich nur zur Regelmäßigkeit, indem er in den donnernden Gesang des bekannten Volksliedes: »Noch ist Polen nicht verloren« überging.
Valerius sah die Bauern außer sich vor Bewegung, Tränen liefen ihnen in die Bärte, und sie umarmten und küßten sich stürmisch.
Er wollte den Saal verlassen. Unweit der Tür sah er im Dunkeln einen Mann stehen, der abgesondert von allen übrigen dem Sturme der Begeisterung nicht nachzugeben schien. Valerius ging dicht an ihm vorüber. Es war der Schmied. »Gut Nacht, Florian, freust du dich nicht bei solchen Dingen?« – »Es kommen ernste Zeiten – gute Nacht, Herr!«
Dem Valerius schien es, als folge ihm sein Nachbar, der Mann im weiten Mantel. Als er sich aber vor dem Hause umblickte, gewahrte er nichts. Hastig eilte er nach dem Hause des Grafen Kicki.
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