[282] Der Kosakentrupp, welcher die drei Gefangenen transportierte, war folgenden Tages nicht weit gekommen; die Nachricht vom Falle der Hauptstadt mochte beim Ramorinoschen Korps eingetroffen sein, wenigstens hielt es inne in seinem Marsche, und die leichte Verfolgung der Kosaken ward dadurch ebenfalls gehemmt. Sie rasteten des Abends in einem kleinen Heidedörfchen, und der Teil, welchem zunächst die Bewachung der Gefangenen anheimfiel, nahm eine Scheune und deren Umgebung zum Nachtquartier. Hedwig war noch immer sehr begünstigt und durfte ohne Fessel bleiben; man sah es nicht gern, wenn sie sich den beiden Schicksalsgefährten zugesellte, hinderte es aber doch nur leichthin und ohne Nachdruck.
Es wurde Nacht, die Kosaken lagen unordentlich auf der Tenne umher und schliefen, durch die zerschlagenen Torflügel der Scheune schimmerten die in Kohlen zusammenfallenden Feuer herein, um welche her die Piken aufgesteckt waren und die kleinen Pferde standen und lagen.
Valerius und Joel, denen die Hände fest auf den Rücken gebunden waren, blieben wach und dachten auf Flucht. Hedwig lag in einiger Entfernung von ihnen und sprach leise zu Valerius herüber. Der Kosak neben ihr hatte dies zwar mehrmals verboten, wenigstens war durch Pantomime und Betonung dies unverkennbar gewesen, obwohl sie des Kosaken Mundart nicht verstand, sie hatte aber keine Notiz davon genommen, und der Kosak war endlich eingeschlafen.
»Nach einer Viertelstunde,« sagte sie leise, »werde ich meinem Wächter das Messer aus dem Gürtel ziehn und den Strick durchschneiden, an welchem er mich festhält, dann komme ich zu Ihnen, um Ihre Bande zu lösen – geben Sie doch dem Kerl, welcher von hier aus vor Ihnen liegt, einen Stoß, damit er sich ein wenig anders legt, über seine breite Figur kann ich nicht geräuschlos wegsteigen.«[283]
Es geschah, der Gestoßene knurrte und erwachte halb, warf sich aber in eine andere Lage. Hedwig vollführte an ihrem Nachbar das Vorhergesagte glücklich und schlüpfte leise zwischen den schlafenden Gestalten hin, hier über ein Bein, dort über einen Arm hinwegschreitend – plötzlich entstand ein Geräusch vor der Scheune, und mehrere Kosaken fuhren in die Höhe; Hedwig, die just neben Valerius angekommen war, kauerte sich zusammen; die Kosaken riefen hinaus, und man antwortete von draußen; Hedwigs Lage war peinlich, und wenn ihr eigentlicher Wächter erwachte, so wurde sie mehr als dies. Dennoch schnitt sie in Eile die Stricke um Valerius Hände durch und gab ihm das Messer, damit er Joel ein Gleiches tue.
Mit Entsetzen gewahrte sie, daß auch ihr Wächter jählings sich aufrichtete und seine Stimme zu einigen unverständlichen Lauten erhob – aber wie bewußtlos und vom Schlaf überwältigt fiel er sogleich wieder zurück; es ward still.
Schweigend verharrten die drei zur Flucht Fertigen; Joel ergriff im Drange seines Gefühls Hedwigs Hand, um sie zu küssen, sie zog dieselbe aber rasch zurück, und Valerius bei der seinigen ergreifend eilte sie vorsichtig über die Schläfer hinweg nach dem Tore. Dort schlüpften alle drei durch die Öffnung, welche durch losgerissene Planken geboten war. Sie standen im Freien, der Wald lag nur etwa zwanzig Schritt entfernt, die Nacht war schwarz und finster, wenige Kohlen glühten noch in den Haufen. Es mußte aber darauf gerechnet werden, daß an mehreren Punkten eine reitende Schildwacht aufgestellt sei, die man umgehen müsse; die schwere Aufgabe blieb auch noch übrig, sich durch den Knäuel von Pferden und Lanzen und auswärts Schlafenden ohne Geräusch hindurch zu schleichen; Hedwig riß eine Pike aus der Erde, die beiden Folgenden taten ein Gleiches, sie waren glücklich den gefüllten Kreis passiert, da hörten sie dicht neben sich den langsamen Tritt eines Pferdes. Dies war der patrouillierende Kosak; sie bückten sich rasch zur[284] Erde, sein Auge aber, schon mehr an die Nacht und Dunkelheit gewöhnt, schien doch etwas gesehen zu haben, er hielt sein Pferd an und streckte wie prüfend und untersuchend die Lanze nach der Gegend, wo sie kauerten. Hedwig, welche zunächst damit in Berührung kam, schlug sie fort, sprang auf und stieß ihre Pike mit aller Anstrengung nach dem Reiter. Ein Schrei, eine lebhafte Bewegung des Pferdes war die nächste Folge. Die Fliehenden eilten jetzt rücksichtslos schnell nach dem Walde, hinter sich hörten sie den schnellen Pferdetritt und ein paar hin und her fliegende Kosakenworte, zuverlässig war es der zweite Wachtposten, welcher zu dem ersten, getroffenen heransprengte, das Nötige hörte, das Pferd nach ihnen wendete und schreiend hinter ihnen dreinsetzte. Sie waren eben bis zwischen die Bäume gekommen, ein Ruck verriet, daß der Lanzenstich des Kosaken gegen einen Stamm geprallt war, wenige Momente darauf knallte ihnen aber ein Schuß nach, und sie hörten den Lärm der aufgeschreckten Schläfer.
Hedwig, welche wieder die Hand von Valerius ergriffen hatte, zuckte heftig zusammen, sie war getroffen. Nur eine kleine Strecke konnte sie noch vorwärts, dann brach sie zusammen; der Wald war ein dichtes Gestrüpp; Valerius trug sie noch einige Schritte mit Hilfe Joels, der bei Erkennung des Unglücks in Jammer ausbrechen wollte und nur mühsam von Valerius zur Ruhe gebracht wurde. Mitten in dem dichten Gestrüpp kamen sie auf einen kleinen lichten Fleck, etwa von der Größe eines Zimmerchens; dort ertasteten sie einen mit der Wurzel herausgerissenen Baum; durch die ausgehobenen Wurzeln hatte sich unten eine Art Höhlung gebildet, da hinein brachten sie das arme Mädchen.
Unterdessen entstand rings im Walde ein brausendes Getümmel der nacheilenden Kosaken, die in den eng stehenden Bäumen nicht wohl fortkamen; bald sahen die Flüchtlinge über das Gestrüpp herüber auch Kienspäne leuchten; aber[285] man glaubte die Fliehenden schon weiter, es hielt sich kein Verfolger damit auf, durch das dichte Gesträuch einen beschwerlichen Weg zu suchen.
Der Lärm und die Gefahr hörten aber keinen Augenblick auf, und man mußte des Schlimmsten gewärtig sein.
Der Schuß war in den Rücken des Mädchens gedrungen, die Sprache wurde immer schwächer, der Tod näherte sich schnell. Und noch in diesem Zustande wies sie die beflissenen Dienstleistungen Joels zurück. Als der weiter spähende Teil der Kosaken wieder am Versteck vorüber zurückzukehren schien, starb die arme Hedwig in Valerius' Armen.
Die Freunde saßen erstarrt und schweigend bei der Leiche bis zum Morgen; der Gedanke an den nahen Feind schien ganz vergessen zu sein; wenigstens ging Joel ohne weitere Vorsicht, sobald es Tag geworden, hinüber nach dem Heidedorfe, um ein Grabscheit zu leihen.
Die Kosaken waren glücklicherweise fort, er fand den Spaten, grub auf der kleinen Lichtung seiner Geliebten, die bis in den Tod seine Liebe abgewiesen hatte, ein tiefes Grab und bestattete sie mit dem ebenfalls schweigenden Freunde in schauerlicher Waldesstille.
– Sie waren später auf dem Wege nach Joels Vaterstädtchen, wo der alte Manasse schwerkrank daniederliegen sollte. Valerius konnte den Versuch nicht mehr wagen, durch die verfolgenden Russen hindurch bis zu Ramorinos Korps zu dringen, er mußte Joels Vorschlag annehmen. Dieser war Tag und Nacht mit ihm durch die Wälder gewandert, zehnmal hatten sie seitab sich bergen müssen, um den russischen Truppen zu entgehen; Joel hatte nur das Allernotwendigste gesprochen; am nächsten Morgen war ihm der starre Schmerz in strömende Tränengüsse aufgegangen, und damit war ihm denn auch die Sprache wiedergekommen, und er konnte in einem gewissen Zusammenhange folgendes vorschlagen: Valerius solle mit zu Manasse kommen, von dort wollte ihn Joel nach Krakau bringen.[286]
»Dort,« sagte er, »werden wir diese unglücklichen Soldatenjacken los, ich werde wieder das, was ich bin und bleiben muß, um eine Existenz zu haben, ein Judenjunge, ich gehe auf den Schacher, da läßt mich die Welt gewähren. Sie stößt mich, sie behandelt mich verächtlich, sie weist mich in den Winkel; aber das wird meinem Herzen wohltun, es wird Ruhe haben. Ich habe ein Mensch sein wollen mit Menschen, man hat dazu gelächelt, und ich habe leider nicht sterben können an diesem Lächeln; andrer Unglück ist der Tod, unser Unglück ist das Leben. Namenlos, namenlos Unglück! Ist's ein nationaler Zug, den wir vom Jordan mitgebracht haben, diese feige Liebe zum Leben, oder ist er uns eingewachsen durch die über tausendjährige Gefangenschaft? Wer weiß es? Oder hängen wir in aller Erniedrigung stolz und gläubig an der alten Tradition, das vornehmste Volk, das auserwählte Volk Gottes zu sein? – Wir können den Tod nicht suchen und wünschen, so notwendig er uns sei. Ich werde ein Schacherjunge, um weiter zu leben.
Und was hab' ich erlebt! Ein gemeiner Bauer verschmäht den Ausdruck meiner Teilnahme; ein Mädchen, das mich geliebt hätte, ich weiß es, wäre ich ihrer Abstammung gewesen, diesem Mädchen blieb ich zuwider bis in den Augenblick des Todes, weil mein Leib eine nationale Atmosphäre hat, die ihr fremd und unheimlich ist, weil ich an den Jordan gehöre und an der Weichsel ein verachteter Fremdling bin. Fremd, fremd, fremd! in dem Worte liegen alle Abgründe der Existenz! Euch stinkt die Zwiebel, die anderen duftet. Nur das verwegene Glückskind trete aus seinem Kreise, ich werde ein Schacherjude und vergesse meine Philosophie und Kenntnis, die ich in falschen Kreisen erlernt habe; Gott gebe, daß ich zurück kann! Der Christ verstößt mich, und ich habe schon lange den Juden in mir verstoßen! Weh! Dies wird der Zwitterzustand, den diejenigen durchmachen[287] müssen wie eine lebenslange, schmerzliche Geburt, die sich einlassen auf Emanzipation. Ihr haltet diese Gewährnis der Emanzipation für eine besondere Gunst, für ein wohlschmeckendes Recht, das ihr uns gewährt – weh, der emanzipierte Jude zieht ein stechend Hemd auf seinen Leib, das er Zeit seines Lebens mit Schmerzen tragen muß, um außen Frack und Weste darüber zu tragen, wie ihr tragt. Wer hilft, wer hilft gegen historisch Unglück?
Und diesem Volke, das in grobe Kinderei entzweit ist, diesem polnischen, das in ungebildeter Persönlichkeit auseinanderklafft und deshalb wieder verloren hat sein Spiel, es wird ihm nicht viel besser gehen als den Juden, und wenn es nicht wandert, so wird es doch beherrscht sein von Fremden, freilich immer noch ein Glück gegen ein Geknechtetwerden in der Fremde! Hatten meine Väter vor ihrem Untergange Streitigkeiten unter sich, so waren's doch große Fragen der Ewigkeit. Der Sadduzäer sprach: Es lebt kein Fleisch fort in anderer Welt, der Pharisäer wollte Gesetz und Prophezeiung und Glaube wörtlich und ganz. Habt ihr die Fragen geschlichtet, an denen wir untergegangen sind? – Was war hier neben uns, hier in Polen zu fragen? Über ein bißchen Verwaltung, ob das Ding so heißt, oder so – pah! Aber was höhn' ich, so spricht kein Schacherjude, und mein Unglück ist unwandelbar.«
Er setzte sich erschöpft nieder; Valerius rastete schweigend neben ihm. Dann sprang er hastig wieder auf und rief: »Ach, ich sollte fliegen, Manasse hat mir nach Warschau sagen lassen, er sei schwer krank, und ›wo bleibt mein Sohn Joel?‹ und ich bin meinem Vergnügen mit der kleinen Hedwig nachgelaufen, 's war wohl ein schlimmes Vergnügen, und nun ist's aus für immer, aber es war doch mein Gelüst, und ich habe versäumt, was allein hält in diesem Leben, das Band zwischen Eltern und Kindern. Vater Manasse, lebe noch, ich komme; du bist vom besten Stamme, vom[288] Stamme Levi, und jeder Jude hat ein zäheres Leben als ein Mensch von anderem Volk; wir sind in allen Dingen die Aristokratie der Welt, von reinem, uraltem Blut – aber was hilft alle Wahrheit, und was ist wahr? Das, was geglaubt wird, sonst nichts. Wir ältesten Aristokraten, wir handeln mit Band und heißen Juden – o Hedwig, wenn du mich einen Augenblick geliebt hättest, dann wäre alles gut – weiter, weiter!«
Die Wanderer kamen des Abends vor dem Städtchen an, in welchem Manasse wohnte; sie traten in das erste Häuschen, um sich zu orientieren und umzukleiden. Das tat wirklich not, denn es war ein Trupp Russen im Orte; in dem Hause wohnte ein jüdischer Trödler, welcher Joel mit lebhafter Freudenäußerung empfing und mit wahrem Jubel den Anzug eines wandernden Bandkrämers zusammenschleppte, einmal über das andere rufend: »Nun haben wir Euch wieder, Herr Joel, nun seid Ihr wieder von unsere Leut! Gottes Wunder, wie wird sich der heilige Rabbiner, Euer Vater Manasse, freuen!«
Joel strich sich die Haare anders, und der elegante Reiter glich wirklich im Handumkehren einem Bandjuden aufs Haar, so daß Valerius erschrak. Die Klagen des schönen jungen Mannes, welche er so lebhaft mitfühlte, waren ihm viel würdiger erschienen, solange der Klagende in besserer Kleidung neben ihm hergegangen war. Er schalt sich über solche Schwäche, fuhr in den Bauernanzug, der ihm auf Joels Veranlassung geboten wurde, und begleitete diesen zu Manasse.
Es war ein kleines dürftiges Haus, sie traten in die Stube und fanden sie dunkel.
»Wer stört einen sterbenden Juden?« stöhnte eine leise, hohle Stimme aus dem Winkel.
Joel, mit der Örtlichkeit vertraut, ging ein paar Schritte seitwärts und machte Licht.[289]
»Weh mir, wer dringt in mein Haus mit Gewalt?« sprach stärker die traurige Stimme. Valerius sah zwischen dem Ofen und einem alten Schranke in schmutzigem Pelzrocke eine Gestalt hocken, zusammengekrümmt, mit langem, schneeweißem Barte und kahlem Haupte: er hätte von selbst Manasse nicht wieder erkannt.
»Vater Manasse!« sprach Joel leise.
»Gott meiner Väter! meine Ohren sind stumpf, meine Augen sind stumpf, aber das ist ein Paradiesesodem, der mich umweht!«
Und lang auf richtete sich die magere todesartige Gestalt und streckte die zitternden, dürren Hände vor.
»Vater Manasse, es ist Joel, Euer Kind!«
Die Erkennung und Begrüßung hatte etwas schauerlich Heftiges, Konvulsivisches. Der Alte fiel darauf erschöpft zusammen, und mit den Worten: »Nun, Gott Abrahams, laß deinen alten Manasse in Frieden fahren, du hast meine Gebete erhöret,« ward er bewußtlos.
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