[56] Marwood. Mellefont. Sara.
MELLEFONT. Liebste Miß, ich habe die Ehre, Ihnen Lady Solmes vorzustellen, welche eine von denen Personen in meiner Familie ist, welchen ich mich am meisten verpflichtet erkenne.
MARWOOD. Ich muß um Vergebung bitten, Miß, daß ich so frei bin, mich mit meinen eignen Augen von dem Glücke eines Vetters zu überführen, dem ich das vollkommenste Frauenzimmer wünschen würde, wenn mich nicht gleich der erste Anblick überzeugt hätte, daß er es in Ihnen bereits gefunden habe.
SARA. Sie erzeigen mir allzuviel Ehre, Lady. Eine Schmeichelei, wie diese, würde mich zu allen Zeiten beschämt haben: itzt aber, sollte ich sie fast für einen versteckten Vorwurf annehmen, wenn ich Lady Solmes nicht für viel zu großmütig hielte, ihre Überlegenheit an Tugend und Klugheit eine Unglückliche fühlen zu lassen.
MARWOOD kalt. Ich würde untröstlich sein, Miß, wenn Sie mir andre, als die freundschaftlichsten Gesinnungen, zutrauten. – Bei Seite. Sie ist schön!
MELLEFONT. Und wäre es denn auch möglich, Lady, gegen so viel Schönheit, gegen so viel Bescheidenheit gleichgültig zu bleiben? Man sagt zwar, daß einem reizenden Frauenzimmer selten von einem andern Gerechtigkeit erwiesen werde: allein dieses ist auf der einen Seite nur von denen, die auf ihre Vorzüge allzu eitel sind, und auf der andern nur von solchen zu verstehen, welche sich selbst keiner Vorzüge bewußt sind. Wie weit sind Sie beide von diesem Falle entfernt! – Zur Marwood, welche in Gedanken steht. Ist es nicht wahr, Lady, daß meine Liebe nichts weniger, als parteiisch, gewesen ist? Ist es nicht wahr, daß ich Ihnen zum Lobe meiner Miß viel, aber noch lange nicht so viel gesagt habe, als Sie selbst finden? – Aber warum so in Gedanken? – Sachte zu ihr. Sie vergessen, wer Sie sein wollen.
MARWOOD. Darf ich es sagen? – Die Bewunderung Ihrer liebsten Miß führte mich auf die Betrachtung ihres Schicksals. Es[56] ging mir nahe, daß sie die Früchte ihrer Liebe nicht in ihrem Vaterlande genießen soll. Ich erinnerte mich, daß sie einen Vater, und wie man mir gesagt hat, einen sehr zärtlichen Vater verlassen müßte, um die Ihrige sein zu können; und ich konnte mich nicht enthalten, ihre Aussöhnung mit ihm zu wünschen.
SARA. Ach! Lady, wie sehr bin ich Ihnen für diesen Wunsch verbunden. Er verdient es, daß ich meine ganze Freude mit Ihnen teile. Sie können es noch nicht wissen, Mellefont, daß er erfüllt wurde, ehe Lady die Liebe für uns hatte, ihn zu tun.
MELLEFONT. Wie verstehen Sie dieses, Miß?
MARWOOD bei Seite. Was will das sagen?
SARA. Eben itzt habe ich einen Brief von meinem Vater erhalten. Waitwell brachte mir ihn. Ach, Mellefont, welch ein Brief.
MELLEFONT. Geschwind reißen Sie mich aus meiner Ungewißheit. Was hab' ich zu fürchten? Was habe ich zu hoffen? Ist er noch der Vater, den wir flohen? Und wenn er es noch ist, wird Sara die Tochter sein, die mich zärtlich genug liebt, um ihn noch weiter zu fliehen? Ach! hätte ich Ihnen gefolgt, liebste Miß, so wären wir jetzt durch ein Band verknüpft, das man aus eigensinnigen Absichten zu trennen wohl unterlassen müßte. In diesem Augenblick empfinde ich alles das Unglück, das unser entdeckter Aufenthalt für mich nach sich ziehen kann. – Er wird kommen, und Sie aus meinen Armen reißen. – Wie hasse ich den Nichtswürdigen, der uns ihm verraten hat! Mit einem zornigen Blick gegen die Marwood.
SARA. Liebster Mellefont, wie schmeichelhaft ist diese Ihre Unruhe für mich! Und wie glücklich sind wir beide, daß sie vergebens ist! Lesen Sie hier seinen Brief. – Gegen die Marwood, indem Mellefont den Brief für sich lieset. Lady, er wird über die Liebe meines Vaters erstaunen. Meines Vaters? Ach! er ist nun auch der seinige.
MARWOOD betroffen. Ist es möglich?
SARA. Ja wohl, Lady, haben Sie Ursache, diese Veränderung zu bewundern. Er vergibt uns alles; wir werden uns nun vor seinen Augen lieben; er erlaubt es uns; er befiehlt es uns. – Wie hat diese Gütigkeit meine ganze Seele durchdrungen! – Nun, Mellefont? Der ihr den Brief wieder gibt. Sie schweigen?[57] O nein, diese Träne, die sich aus Ihrem Auge schleicht, sagt weit mehr, als Ihr Mund ausdrücken könnte.
MARWOOD bei Seite. Wie sehr habe ich mir selbst geschadet! Ich Unvorsichtige!
SARA. O! lassen Sie mich diese Träne von Ihrer Wange küssen!
MELLEFONT. Ach Miß, warum haben wir so einen göttlichen Mann betrüben müssen? Ja wohl einen göttlichen Mann: denn was ist göttlicher, als vergeben? – Hätten wir uns diesen glücklichen Ausgang nur als möglich vorstellen können: gewiß, so wollten wir ihn jetzt so gewaltsamen Mitteln nicht zu verdanken haben; wir wollten ihn allein unsern Bitten zu verdanken haben. Welche Glückseligkeit wartet auf mich! Wie schmerzlich wird mir aber auch die eigne Überzeugung sein, daß ich dieser Glückseligkeit so unwert bin!
MARWOOD bei Seite. Und das muß ich mit anhören!
SARA. Wie vollkommen rechtfertigen Sie, durch solche Gesinnungen, meine Liebe gegen Sie.
MARWOOD bei Seite. Was für Zwang muß ich mir antun!
SARA. Auch Sie, vortreffliche Lady, müssen den Brief meines Vaters lesen. Sie scheinen allzu viel Anteil an unserm Schicksale zu nehmen, als daß Ihnen sein Inhalt gleichgültig sein könnte.
MARWOOD. Mir gleichgültig, Miß? Sie nimmt den Brief.
SARA. Aber, Lady, Sie scheinen noch immer sehr nachdenkend, sehr traurig. – –
MARWOOD. Nachdenkend, Miß, aber nicht traurig.
MELLEFONT bei Seite. Himmel! wo sie sich verrät!
SARA. Und warum denn?
MARWOOD. Ich zittere für Sie beide. Könnte diese unvermutete Güte Ihres Vaters nicht eine Verstellung sein? eine List?
SARA. Gewiß nicht, Lady, gewiß nicht. Lesen Sie nur, und Sie werden es selbst gestehen. Die Verstellung bleibt immer kalt, und eine so zärtliche Sprache ist in ihrem Vermögen nicht. Marwood lieset für sich. Werden Sie nicht argwöhnisch, Mellefont; ich bitte Sie. Ich stehe Ihnen dafür, daß mein Vater sich zu keiner List herablassen kann. Er sagt nichts, was er nicht denkt, und Falschheit ist ihm ein unbekanntes Laster.[58]
MELLEFONT. O! davon bin ich vollkommen überzeugt, liebste Miß. – Man muß der Lady den Verdacht vergeben, weil sie den Mann noch nicht kennt, den er trifft.
SARA indem ihr Marwood den Brief zurück gibt. Was seh' ich, Lady? Sie haben sich entfärbt? Sie zittern? Was fehlt Ihnen?
MELLEFONT bei Seite. In welcher Angst bin ich! Warum habe ich sie auch hergebracht?
MARWOOD. Es ist nichts, Miß, als ein kleiner Schwindel, welcher vorübergehn wird. Die Nachtluft muß mir auf der Reise nicht bekommen sein.
MELLEFONT. Sie erschrecken mich, Lady – Ist es Ihnen nicht gefällig, frische Luft zu schöpfen? Man erholt sich in einem verschloßnen Zimmer nicht so leicht.
MARWOOD. Wann Sie meinen, so reichen Sie mir Ihren Arm.
SARA. Ich werde Sie begleiten, Lady.
MARWOOD. Ich verbitte diese Höflichkeit, Miß. Meine Schwachheit wird ohne Folgen sein.
SARA. So hoffe ich denn, Lady bald wieder zu sehen.
MARWOOD. Wenn Sie erlauben, Miß – Mellefont führt sie ab.
SARA allein. Die arme Lady! – Sie scheinet die freundschaftlichste Person zwar nicht zu sein; aber mürrisch und stolz scheinet sie doch auch nicht. – Ich bin wieder allein. Kann ich die wenigen Augenblicke, die ich es vielleicht sein werde, zu etwas Besserm, als zur Vollendung meiner Antwort anwenden? Sie will sich niedersetzen zu schreiben.
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Miß Sara Sampson
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