Ihre Exzellenz die alte Gräfin oben auf der Freitreppe

[86] Das Automobil ist vorgefahren.

Und in den geschmacklosen, schrecklichen Schrein

Steigen vier junge Komtessen hinein.

Alle vermummt wie beim Femgericht.

Und gegen Insekten, Staub, Regen und Licht

Tragen sie schwarze Brillen sogar,

Und sind jetzt all ihrer Schönheit bar.

Ach, diese reizenden Mädchengestalten

Sind wüst verschwunden in Futter und Falten.

Ins Kloster, ins Kloster, ihr vier Komtessen,

Lebt wohl, ihr armen Chanoinessen.


Auf der Freitreppe oben, tief im Grame,

Steht eine alte Exzellenzendame.

Sie ruft indigniert und ruft ganz laut:

Von all diesem bin ich wenig erbaut!

Gräßliches Bild! Mir wird übel zumute,

Und nun noch dazu das infame Getute!

Pfui, der Geruch! Eau de Cologne her!

Ich rieche Benzin und Geschmier und Schmeer.

Vier adliche Füchse, das war ein Geleit!

O Gott, wo blieb meine alte Zeit!
[87]

Von dannen mit Stank und mit Ungestüm

Saust das fauchende Ungetüm.

Die alte Exzellenz geht verstimmt in den Saal,

Noch immer scheint ihr »das Bild« fatal.

Da lärmt ihr, kindertoll und verwegen,

Das jüngste, fünfjährige Gräfchen entgegen,

Umarmt ihre Hüften, sieht zu ihr empor,

Mit seinen leuchtenden Augen empor:

»Sie fuhren aus, sei doch nicht böse,

Ich bin ja noch da.« Und im Spielgetöse

Neigt sie sich, wie zum Frieden bereit,

Und küßt ihm die Locken: »Die neue Zeit«.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Gute Nacht. Berlin 1909, S. 86-88.
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