Pompeji

[31] Auferstandne Stadt der Heiden,

Sei gegrüßt, Ersehnte du!

Heut noch heiter wie beim Scheiden

Lachst du deiner Sonne zu.


Überall aus dunkler Lava

Drängen Blumen sich ans Licht,

Die Reseda, die Agava,

Auch die Myrte fehlet nicht.


Rosen blühn im Schlafgemache;

Lippen, die schon längst verdorrt,

Sprachen in der schönsten Sprache

Hier dereinst der Liebe Wort.


Um die Säulen rankt sich wilder

Efeu, und wie früher schau'n

Die erstandnen Marmorbilder

Auf zum alten Ätherblau'n.


Nur des Meeres wechselvolle

Woge, die sonst hier gekreis't,

Wich von ihrer Uferscholle,

Und wie sie der Menschengeist.


Eine andre Menschheit baute

Dieser Tempel heitern Raum,

Und nur fremd sieht die ergraute

Ihrer Jugend fernen Traum.


Nur wie halbverstandne Dichtung

Mahnt auch mich, was hier noch glänzt;

Ach, ich fühl's, wie gut Vernichtung

Und Vollendung sich begrenzt.
[32]

Freudig kam ich, Stadt der Alten,

Und mit Wehmut scheid' ich nun.

Würdest unter deiner kalten

Lava du nicht besser ruhn?


Auf die Worte der Beschwörung

Stiegst du zögernd aus der Gruft;

Jetzt erst faßt dich die Zerstörung ––

Schatten taugt nicht Himmelsluft.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 31-33.
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