Lied im Süden

[34] Sonnenuntergang!

Lautlos ruhen Säulengang

Und verlassne Marmorbäder,

Wo den stillen Weg entlang

Noch antiker Wagenräder

Furchen trägt der Lavastein.

Rot im Abendschein

Wirft der Ölwald längre Schatten

Längs der braunen Felsenplatten

Um den Bergabhang –

Sonnenuntergang.


Abenddämmerung!

Blumen atmen wieder jung,

Und in uns erblühn die weißen

Rosen der Erinnerung.

Könnt' ich sie verwelken heißen?

Schnell im Süden kommt die Nacht,

Flüchtig ist die Macht

Deines schwärmerischen Glückes,

Wie die Flammen eines Blickes

Voll Begeisterung,

Abenddämmerung.


Sommermitternacht!

Nur noch die Cicade wacht;

Ringsum ruhn die dunkeln Täler.

Unter alter Tempelpracht,[34]

Wo gestürzte Kapitäler

Meine Kissen, wo mein Haupt

Lorbeer selbst umlaubt,

Sollt' ich's nicht gestehn im Liede,

Wie dein tiefer, stiller Friede

Ganz mich glücklich macht,

Sommermitternacht?

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 34-35.
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