Heimatpfade

[262] Wild umher, gleich im Dickicht zerstreuten

Waldblumen, sind die Gaben

Den Menschen versteckt. Es deuten,

Welchen Pfad wir zu wandeln haben,

Wo der Himmel ein Glück uns erkor,

Lichtelfen mit weißer Hand

Stillwinkend im Schatten hervor.


Das meiste Gute liegt als Pfand

Unsrer Zukunft geborgen;[262]

Mehr, als wir nur ahnen, liegt

Da, wo mit Sorgen

Die Mutter uns gewiegt.

Nie auszuschöpfenden Reichtum hegt,

An heimlichen Plätzen hinterlegt,

Die Heimat, das Vaterhaus;

Von ihm durchs ganze Leben

Gehen die weitreichenden Fäden aus,

Die unsre Lose weben.

Doch die Himmelstöchter weilen

Nicht gern hienieden und teilen

Ihre Gaben uns aus im Flug.

Sie eilen heim und küssen mit rosigem Munde

Flüchtig nur; selten noch schlug

Ein zweites Mal die günstige Stunde.

Nur der Emsige findet

Die freundlichen mitten in fremder Welt

Und erkennt, was hold ihn bindet,

Was Wort ihm hält.

Selbst der Jugend Irrgänge leiten

Zu Höhen empor,

Wenn nur rastlos hinanzuschreiten

Der Wandrer nicht den Mut verlor.


Wer aber betört

Nach Glänzendem hascht in eitlem Beginnen

Und nicht die Warnenden hört,

Die treuen Begleiterinnen,

Der sieht sie ärmer und ärmer werden nur

Und endlich wie Nebel zerrinnen.

Dann steht er allein auf öder Flur,

Und sie sind heimgegangen,

Die tausend liebenden Blicke,

Womit die Eltern ihr Kind umfangen,

Ihr Lächeln, ihr Mühn und die dem Geschickte[263]

Entrungnen frohen Stunden,

Die als schützende Genien so lang

Umschwebten den Lebensgang,

Sie alle sind unwiederbringlich entschwunden.


O rettet ihn, bietet ihm hilfreich die Hand!

Daß auch im Elend der Mann empfindet,

Wie Tag für Tag erstarke das Band,

Das alle Menschenseelen verbindet;

Denn gegen die offnen und stillen Gefahren,

Die schon dem frühen Morgen drohn,

Mag sich bewahren

Kaum des Glückes begünstigter Sohn.

Jedem gesteckt ist Ziel und Marke,

Allen eröffnet ist die Bahn,

Aber zu jäh stürmt der Kühne hinan,

Zu fest vertraut auf sich der Starke;

Die Waffen sinken läßt der Schwache,

Eh' noch der halbe Weg erreicht.


Und den Stolzen trifft mit sichrer Rache

Der Neid, der tückisch ihn umschleicht,

Ja selbst der, dem der Sieg beschieden,

Der zurückkehrt zur Heimatflur,

Ach, er bringt in den endlichen Frieden

Waffen, zerstückte, blutgetränkte nur!


Was Bestimmung ist,

Und warum wir erfüllen müssen,

Was ein ewig Schicksal voraus ermißt,

Was fest steht über menschlichen Entschlüssen,

Wohin wir gehn durch »Lebensflut

Und Tatensturm,« das Letzte, Tiefste ruht

Für immer verhüllt – alles Gut[264]

Es stammt von früh her, am tiefsten ins Blut

Sind uns getaucht die ersten Erinnerungen,

Mögen sie nun großen Städtegebrauses,

Nur flüchtige Bilder dem Sinne sein,

Ob ein Giebeldach im schattigen Hain,

Ob Nachbar des Hauses

Meer war, oder ragendes Felsgestein,

Oder ein Hüttendach, wo versteckt

Vom blühenden Apfelbaum

Ein Rotkehlchen dich aufgeweckt

Aus deinem ersten Morgentraum.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 262-265.
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