Volkslied

[408] (7. April 1907.)


Es steht ein Baum am Stephansstift,

Der hat drei grüne Äst',

Einst standen ein'ge Tausend hier,

Das ist der schäbige Rest.


Da sitzt ein kleiner Vogel drauf,

Der pfeift nicht gerade schön,

Es ist ein Spatz, denn Fink und Star

Sind längst nicht mehr zu sehn.
[408]

Der Vogel sitzt in seinem Nest

Wohl auf dem letzten Baum;

Ach Schätzel, bin ich hühnerblind,

Oder ist es nur ein Traum.


Es ist kein Traum, den schönen Wald,

So dichte bei der Stadt,

Verkaufte man und trieb ihn ab,

Das tat der Magistrat.


Der Baum, der steht beim Stephansstift,

Und still mir mein Verstand,

Der Vogel pfeift ein Schelmenlied,

Man hört's im ganzen Land.


Und wer es hört, der denkt sein Teil

Und spricht: »'s ist ein Skandal!

Woanders pflanzt man Bäume an,

Hier hackt man alles kahl.


Woanders geht man klug zu Werk

Und hält vernünftig Haus,

Doch hier ...«, da fliegt der Vogel weg,

Das Lied ist deshalb aus.

Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 408-409.
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