[62] 1780.
Mein Geist, des Erdewallens müde,
Sehnt sich, o Gruft! nach deiner Ruh,[62]
Denn meines Herzens goldner Friede
Flog seinem Eden wieder zu.
Wie Regenbogenschimmer schwanden
Der Jugend holde Phantasien;
Den Kranz, so Lieb' und Freundschaft wanden,
Hies, Trennung, deine Hand verblühn!
O! selige Erinnerungen!
Da ich, am lenzumblümten Bach,
Von Nachtigallen eingesungen,
Als sorgenfreier Knabe lag;
Da unbedornten Blumenwegen
Entzükken Strom auf Strom entquoll,
Mir Sphärenmelodie entgegen
In jedem Frühlingsliede scholl;
Da mir noch keine Thränen flossen,
Als die die Freude weinen hies,
Da ich, vom Mutterarm umschlossen,
Mich überschwenglich selig pries;
Da Ruhe Stund in Stunde webte,
Mir wundersüße Lieder sang,
Um jeden meiner Tritte schwebte,
Bis ich den Kelch des Schlummers trank.
O! steh mir immerdar zur Seite,
Geliebtes Bild der Knabenzeit!
Bis zur Vollendung, dann geleite
Mich im Triumph zur Ewigkeit.
Ach! meines Herzens goldner Friede
Flog seinem Eden wieder zu,
Mein Geist, des Erdenwallens müde,
Sehnt sich, o Gruft! nach deiner Ruh!
[63]
Hinauf! Hinauf! zu jenem Lande
Von wo du stammest, o mein Geist!
Wo du, im schimmernden Gewande,
Dich ewig deines Gottes freust!
Dort trinkst, in vollen Taumelzügen,
Du süße, niebereute Lust!
Dort wird der Zähren Quell' versiegen,
Dort schwellt kein Seufzer mehr die Brust!
Dort strömt dir Paradieseswonne
Aus tausend Lebensbächen zu,
Dort lächelt eine mildre Sonne
Dir unaussprechlich sanfte Ruh!
Bald reich, o Tod! dem Lebensmüden,
Erschöpften Pilger deine Hand!
Denn alles Menschenglük hienieden
Ist Nebeldunst und leerer Tand!
Hinab denn, o mein Leib! zum Staube!
Bald wird dein lezter Morgen graun!
Dann werd ich dich, an den ich glaube,
Durch alle Ewigkeiten schaun!
Buchempfehlung
Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.
248 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro