Romanze

[212] 1791.


Ein Fräulein klagt' im finstern Thurm

Am Seegestad' erbaut.

Es rauscht' und heulte Wog' und Sturm

In ihres Jammers Laut.


Rosalia von Montanvert

Hieß manchem Troubadour

Und einem ganzen Ritterheer

Die Krone der Natur.


Doch ehe noch ihr Herz die Macht

Der süßen Minn' empfand,

Erlag der Vater in der Schlacht

Am Sarazenenstrand.


Der Ohm, ein Ritter Manfry, ward

Zum Schirmvogt ihr bestellt;

Dem lacht' ins Herz, wie Felsen hart,

Des Fräuleins Gut und Geld.
[212]

Bald überall im Lande ging

Die Trauerkund' umher:

»Des Todes kalte Nacht umfieng

Die Rose Montanvert.«


Ein schwarzes Todtenfähnlein wallt

Hoch auf des Fräuleins Burg;

Die dumpfe Leichenglocke schallt

Drei Tag' und Nächt' hindurch.


Auf ewig hin, auf ewig todt,

O Rose Montanvert!

Nun milderst du der Wittwe Noth,

Der Waise Schmerz nicht mehr.


So klagt' einmüthig Alt und Jung,

Den Blick von Thränen schwer,

Vom Frühroth bis zur Dämmerung,

Die Rose Montanvert.


Der Ohm in einem Thurm sie barg

Erfüllt mit Moderduft.

Drauf senkte man den leeren Sarg

Wohl in der Väter Gruft.


Das Fräulein horchte, still und bang,

Der Priester Litaney'n;

Trüb' in des Kerkers Gitter drang

Der Fackeln rother Schein.


Sie ahnte schaudernd ihr Geschick,

Ihr ward so dumpf und schwer;

Im Todesgraun erstarb ihr Blick,

Sie sank und war nicht mehr.


Des Thurms Ruinen an der See

Sind heute noch zuschaun.[213]

Den Wandrer faßt in ihrer Näh'

Ein wundersames Graun.


Auch mancher Hirt verkündet euch,

Daß er, bey Nacht, allda

Oft, einer Silberwolke gleich,

Das Fräulein schweben sah.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 212-214.
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