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Wir schwammen, fünf Personen in einem kleinen sechssitzigen Boote, auf dem Rio Madeira, dem größten Nebenflusse des Amazonenstromes. Vorn am schmalen Buge saß Sennor Perdido; dann kamen die drei Ruderer Agustin, Manuel und Mateo, und ich lenkte hinten das Steuer. Man darf sich durch die Namen nicht verleiten lassen, die drei Leute, welche die Ruder führten, für Weiße zu halten. Sie waren echte Toba-Indianer, welche vor einigen Monaten bei der heiligen Taufe diese christlichen Namen erhalten hatten. Obgleich Agustin und Manuel älter waren als ich, waren die Drei doch meine geistlichen Kinder, denn ich hatte sie in den Lehren des Christentums unterrichtet und dann Pate bei ihnen gestanden.
Die beiden Genannten waren ernste, wortkarge, doch höchst zuverlässige Personen, während der vielleicht zwanzigjährige Mateo ein heiteres, mitteilsames Naturell besaß und ganz besonders gern von seiner Treue und Zuneigung zu mir sprach. Nur ihre große Anhänglichkeit hatte sie vermocht, mit mir so weit von ihrer Heimat bis fast hinab zum Marañon zu gehen und während der langen Bootsfahrt nicht geringe Fährlichkeiten zu bestehen. In Cratto hatten wir Halt gemacht und uns ausgeruht, um da wieder umzukehren. Hier war Sennor Perdido zu mir gekommen und hatte mich gebeten, ihn mitzunehmen, da er hinauf nach den Anden wolle.
Ich muß gestehen, daß er keinen freundlichen Eindruck auf mich gemacht hatte. Der Name Perdido heißt auf deutsch »der Verlorene«, und dazu stimmte sein Wesen und sein Verhalten. Er war ein kräftiger, junger Mann und machte sich als Ruderer nützlich; er wußte sehr gut mit dem Gewehre umzugehen, kannte die Tücken des tropischen Urwaldes genau und ging, so oft wir an das Ufer legten, auf die Jagd, um reiche Beute mitzubringen; er war des Tupi vollständig mächtig, jenes Zweiges der weitverbreiteten Guaranisprache, welcher unter der Bezeichnung Lingoa general de Brasil den meisten Stämmen des Innern als Mittel zur Verständigung dient. Und trotz dieser guten und für mich nützlichen Eigenschaften gefiel er mir doch nicht. Er war finster und unfreundlich, in sich verloren, vielleicht mit sich selbst zerfallen, und besaß, was mich am meisten abstieß, weniger Glauben als ein Heide; das hatte ich trotz seiner Schweigsamkeit bald weg. Ich unterhielt mich mit meinen Toba-Indianern oft und gern über Religion; dann lag auf seinem sonnverbrannten Gesichte stets der Ausdruck eines Spottes, eines Hohnes, der sich meist in dem Ausrufe Luft machte:
»Chito – schweigen Sie! Es giebt keinen Gott; warum reden Sie davon!«
Ich gab ihm natürlich hierauf die erforderliche ernste Antwort; er aber wendete sich von mir ab und ließ sie an sich vorübergehen, ohne daß sie die von mir beabsichtigte Wirkung hervorbrachte.
Er war mir auch in Beziehung auf seinen Stand ein Rätsel. Ich hatte aus verschiedenen seiner Aeußerungen bemerkt, daß er mehr Bildung besaß als diejenigen Weißen, welche sich zu irgend einem Zwecke bei den Indianern des Urwaldes herumtreiben. Auch seine Kleidung paßte ganz und gar nicht in die Gegend, in welcher wir uns befanden. Er trug Reithosen von Jaguarfell und an den mit Alpargatas leichtbeschuhten Füßen pfundschwere, großräderige Sporen, welche hier im Urwalde nicht nur überflüssig sondern sogar hinderlich waren. Diese Hose und die blaue, dünnstoffene Jacke wurde von einer Hüftschnur zusammengehalten, an welcher ein langes Messer in lederner Scheide hing. Außerdem hatte er einen festen, breiten Ledergurt, in welchem zwei Pistolen steckten und der zwei lederne Leibtaschen trug, in denen man das Geld und andere Wertsachen zu verwahren pflegt. Auf seinem Kopfe saß ein schwerer, sehr breitrandiger, aus feinem Schilfstroh geflochtener Hut. Neben dem Messer und den Pistolen war er mit einem kurzläufigen Gewehre bewaffnet. Das war nicht das Habit eines Waldmenschen; viel eher hätte ich ihn für einen Comercianten, das heißt für einen jener Händler halten mögen, welche auf den zwischen den Cordilleren und der heißen Zone liegenden einsamen Dörfern und Höfen herumziehen. Dafür sprachen auch die zwei schweren Pakete, welche er beim Einsteigen sich in unser Boot hatte bringen lassen. Vielleicht hätte er mir Auskunft gegeben, aber da er mir nicht freiwillig mit einer offenen Mitteilung entgegengekommen war, so hatte ich es nicht für angezeigt gehalten, ihn nach seinem Stand und seinen Verhältnissen zu fragen.
Es war ein wunderbarer Urwaldsmorgen, ganz, ganz anders, als ich im Westen der Vereinigten Staaten erlebt hatte. Der Urwald der Tropen ist ja unendlich verschieden von dem des Nordens. Der jungfräuliche Wald der Felsengebirge ist ernst, hehr und still. Er gleicht einem Dome. Wer ihn betritt, fühlt sich ergriffen, so daß er es kaum wagen möchte, das tiefe Schweigen durch ein laut gesprochenes Wort zu unterbrechen, zu entweihen. Im Urwalde des Südens aber ist alles eine einzige große Pracht der Farben und Formen. Da giebt es Leben und Bewegung selbst in der dunkelsten Nacht, und Ruhe tritt eigentlich nur zur Mittagszeit ein, wenn die im Zenithe stehende Sonne so glühend niederstrahlt, daß alles tierische Leben ermattet und sich in den tiefsten Schatten des Waldes zurückzieht.
Die beiden Ufer des Flusses zeigten eine üppige, undurchdringliche Palmenvegetation, über welche sich die hohen Turu- und Cucuritkronen erheben. Dann treten stellenweise die Palmen zurück, und dichtes Laubgebüsch, mit Tausenden der verschiedenfarbigsten Blüten überladen, gewann die Oberhand. Das schillerte, flimmerte, brillierte in allen möglichen Farben und Farbenmischungen und schwängerte die Morgenluft mit einem Dufte, wie so schwer und zugleich süß ihn eben nur die Tropen hervorzubringen vermögen. Dann wieder waren die Ufer bedeckt mit Bombaceen, welche ihr Laub verloren hatten. An Stelle dessen waren Millionen herrlicher Blüten aus den kahlen Aesten hervorgebrochen, aus denen sich lange, rotglänzende Samenkapseln entwickeln. Zwischen diesen Blüten hingen Hunderte der Japera-Beutelnester. Goldene Schreivögel schossen durch die Lüfte. Kolibris zuckten wie funkelnde Edelsteine hin und her. Zuweilen ertönte der entsetzliche Schrei eines einzelnen Brüllaffen, in welchen dann die ganze Satanasschar einstimmte. Auf den höchsten Zweigen der Bäume schaukelten sich Uistitis, niedliche Aeffchen von Eichhörnchengröße. Eine große Menge von Wat- und Schwimmvögeln belebte den Strom, und auf den Sandbänken sonnten sich die Krokodile. Zuweilen begegnete uns eine Schildkröte, welche uns im Vorüberschwimmen dumm-dreist anstierte. Und die Tiefe wimmelte förmlich von Fischen, welche luftschnappend in die Höhe kamen.
Die Wasservögel begrüßten unser Boot mit einem Höllengeschrei; noch größer aber war der Lärm, welcher von Zeit zu Zeit aus dem Walde drang. Das wurde aber anders. Je näher der Mittag kam, desto stiller wurde es, und als die Sonne den Scheitelpunkt beinahe erreicht hatte, herrschte tiefste Ruhe ringsumher.
Auch wir konnten die Glut nicht länger ertragen und strebten dem Ufer zu, als wir eine Stelle bemerkten, wo das Gebüsch nicht sehr dicht war und wir also landen konnten. Wir banden das Boot an und wateten durch den tiefen Schlamm, bis wir festen Boden unter uns hatten. Dann aber war die Vegetation so undurchdringlich, daß wir uns mit den Messern Platz verschaffen mußten.
War das eine Pflanzenpracht und Pflanzenherrlichkeit! Wir befanden uns unter Timichopalmen, deren Wedel in blaßrosener Färbung prangten. Hoch darüber breitete der Riese des Urwaldes, ein kolossaler Ceiba, sein schirmartiges Laubdach aus. Baumartige Farren, wunderbar gefiedert, strebten vergeblich zu ihm empor. Und hoch oben in den Wipfeln des Ceiba kletterten Lianen, bald wie Schnüre herabhängend oder wie Seile von einem Aste zum andern gespannt, auf denen Affen, die Seiltänzer des Waldes, ihre Künste ausübten, ohne sich durch uns stören zu lassen.
Hie und da stiegen die Lianen wie Stangen senkrecht oder wie Seile um einander gedreht in den seltsamsten Verschlingungen zur Erde herab, und an ihnen rankte sich ein Dickicht von Passifloren bis zur Krone des Ceiba empor, mit Millionen und Abermillionen von roten, blauen und violetten Passionsblumen besetzt.
Ich war ganz Staunen über diese geradezu unbeschreibliche Herrlichkeit. So eine unendliche Fülle von Blüten wollte mir fast unbegreiflich erscheinen. Das war ja ein förmliches Blumenfeuer, eine Blütenflamme, welche bis zum Himmel zu reichen schien! Ich winziger Erdenwurm stand vor und unter ihr wie Moses, als die Stimme des Herrn aus dem brennenden Busche ertönte:
»Moses, zieh' Deine Schuhe aus, denn der Ort, auf welchem Du stehst, ist ein heiliges Land.«
Es war nicht das Gigantische dieses Passiflorendickichts, nicht die wunderbare Farbenpracht allein, welche diese Wirkung auf mich hervorbrachte, sondern auch der Umstand, daß wir uns jetzt in der Passionszeit befanden. Die Passiflorenblüte schließt ja die Insignien des Leidens unseres Herrn und Heilandes ein.
Der Schlaf war infolge der großen Hitze ein fast unabweisbares Bedürfnis für uns, aber beim Anblicke dieses blühenden Wunderwerkes der Allmacht Gottes war es mir unmöglich, die Augen zu schließen. Die Gefährten warfen sich hin, hüllten Gesicht und Hände gegen die Mosquitos ein und waren bald in tiefen Schlaf gefallen. Ich saß still da, ohne auf die Stechfliegen zu achten, und dachte an das ferne Zion, die Burg des Heiles, an Gethsemane, an die Kreuzesstätte, an das Felsengrab und an den Osterjubelruf: »Er ist wahrhaftig auferstanden und nicht mehr hier!«
Da hatte sich ein Krokodil an das Ufer gemacht und schob sich in der Lücke, welche wir durch das Gebüsch gehauen hatten, auf uns zu. Als es uns erblickte, hielt es an. Es schien, als ob es überlege, ob es fliehen oder angreifen solle. Wahrscheinlich entschloß es sich für das letztere, denn es setzte nach einer kurzen Pause seinen Weg fort. Ich griff nach der Bärenbüchse und gab ihm eine Kugel in das Auge. Es brüllte, warf sich herüber und hinüber, wälzte sich, bis es auf den Rücken zu liegen kam und war dann tot. Es war ein schwarzer Kaiman von dreizehn Fuß Länge.
Der Schuß hatte meine Gefährten natürlich aufgeweckt. Es fiel ihnen nicht ein, über die tote Bestie zu erschrecken, denn am Lande sind diese Tiere nicht gefährlich; aber von einem Wiedereinschlafen war doch nun keine Rede mehr. Perdido stand auf und entfernte sich, indem er mit Hilfe seines Messers in das Dickicht eindrang. Er pflegte unser Lager oft ohne einen sichtbaren Grund zu verlassen; man hörte ihn dann in der Ferne laut mit sich sprechen, und wenn er zurückkehrte, war er innerlich erregt, äußerlich aber stiller und finsterer als vorher.
Als er fort war, führte ich die Gedanken, welche mich vorher bewegt hatten im Gespräche mit den Tobas weiter und brach schließlich einige Passionsblumen ab, um ihnen die Bedeutung der einzelnen Teile zu erklären. Dabei bemerkte ich Perdido. Er war zurückgekehrt und steckte nahe bei uns im Gesträuch, um mir heimlich zuzuhören. Der Ausdruck seiner Augen war dabei ein ganz sonderbarer. Es lag zwar die gewöhnliche Verachtung darin, aber auch etwas, was ich beinahe Sehnsucht oder geistlichen Hunger hätte nennen mögen. Als er gewahrte, daß ich ihn gesehen hatte, kam er herbei, riß eine der Blüten ab und fragte:
»Also diese Blume soll ein Sinnbild des Leidens Ihres sogenannten Heilandes sein, Sennor?«
»Ja,« antwortete ich ruhig, »doch nicht des sogenannten, sondern des wirklichen!«
»Die Ranken sollen die Geißeln, die lappigen Blätter die Lanze, der Fadenkranz die Dornenkrone, die fünf Staubbeutel die Wundenmale, der Fruchtknoten den Kelch und die drei Griffel die Nägel des Kreuzes bedeuten? Sennor, wenn das nicht der höhere Blödsinn ist, so giebt es eben keinen Blödsinn mehr!«
Er warf die Blume zu Boden und trat darauf. Das empörte mich; darum sagte ich in scharfem Tone:
»Denken Sie, was Sie wollen, Sennor; aber Sie haben jetzt nicht die Pasionaria, sondern das, was sie bedeutet, mit Füßen getreten!«
»Pasionaria!« hohnlachte er. »So wird die Blume doch nur von verdummten Menschen genannt. Sie wissen doch jedenfalls, daß ihr eigentlicher Name Granadilla ist. Sind Sie denn wirklich so albern, das, was Sie sagen, zu glauben? Leiden Christi! Wer war Christus? Ein Mensch wie Sie und ich! Wie kann ein Mensch die ganze Menschheit selig machen! Er ist gestorben, wie jeder sterben muß. Und daß er das Erlösungswerk durch seine Auferstehung gekrönt haben soll, das ist – das – das ist – – –«
Er hielt inne, wohl in Folge des Blickes, den ich auf ihn warf. Ich sprang auf, stellte mich hart vor ihn hin und fragte:
»Das ist – das ist – – nun, was ist es?«
»Unwahrheit. Kein Toter steht auf!«
Ich wollte ihm eine zornige Entgegnung in das Gesicht schleudern, beherrschte mich aber und sagte in gemäßigtem Tone, indem ich ihm die Hand auf den Arm legte:
»Sennor, Sie können mir leid thun, ungeheuer leid! Christus ist auch für Sie gestorben und auch für Sie auferstanden, und wohl Ihnen, daß dem so ist!«
»Wohl mir? Warum?«
»Weil Sie eines Heilandes wohl mehr bedürfen als tausend andere Menschen.«
»Ich – ich – – ich?« fragte er, indem er einige Schritte zurücktrat und mich aus seinen dunklen Augen förmlich anblitzte.
»Ja Sie! Was für eine Last liegt auf Ihrem Herzen? Warum gehen Sie so oft von uns fort, um laut mit dem finstern Geiste zu sprechen, der in Ihnen wohnt? Sie haben ein böses Gewissen!«
»Ein böses Gewissen?« schrie er mich an, indem er nach seinem Messer griff. »Wagen Sie, das noch einmal zu sagen, so fährt Ihnen meine Klinge in das Herz, ohne daß Ihr Erlöser mich daran hindern kann!«
»Pah!« antwortete ich, indem ich den Revolver zog. »Ehe Sie den Arm erhoben, haben Sie zwei, drei Kugeln von mir! Ich wiederhole es: Sie haben ein böses Gewissen; Sie tragen ein Verbrechen mit sich herum. Es giebt nur ein Heil für Sie, und dieses kommt von Dem, den Sie verleugnen. Sie werden keine Ruhe und keinen Frieden finden und nach Erlösung schreien, daß Ihnen die Zunge am Gaumen klebt. Es wird eine Passionszeit, eine Zeit der Qual, des tiefsten Leidens für Sie kommen, und ich will wünschen, daß das Osterwort ›Christ ist erstanden‹ dann auch für Sie erklingen möge; denn ohne dieses Wort giebt es für Sie keine Rettung!«
Er war leichenblaß geworden und starrte mich wie abwesend an. Seine blutleeren Lippen zuckten, die Hand sank ihm vom Messer nieder. Dann jedoch raffte er sich zusammen, stieß ein kurzes, heiseres Gelächter aus und sagte:
»Sie phantasieren, Sennor: darum will ich nicht mit Ihnen rechten. Sobald sich mir eine andere Gelegen heit bietet, verlasse ich Sie. Bis dahin aber hüten Sie sich! Ich bin nur dieses eine Mal nachsichtig, nun aber nicht wieder. Mein Messer kann eben so schnell wie Ihre Kugeln sein!«
Ich hielt es nicht für nötig, hierauf ein Wort zu entgegnen. Am liebsten hätte ich ihn fortgejagt; aber das konnte ich hier im tiefen Urwalde doch nicht thun. Er sprach während der folgenden Tage nicht mehr mit mir; er wendete sich an die Tobas, wenn er etwas zu sagen oder zu fragen hatte. Das war eine unerquickliche Zeit, und ich freute mich, als wir nach vieler Anstrengung die Fälle des Rio Madeira überwunden hatten und dann in den Mamoré einbogen. Wir waren da in einer Gegend, wo man hoffen konnte, wieder Menschen, und zwar Weiße zu treffen.
Diese Hoffnung erfüllte sich schon am nächsten Tage. Wir hörten an einer Stelle, wo der Fluß schmäler wurde, Axtschläge vom Ufer herübertönen und lenkten natürlich auf dasselbe zu. Es waren da mehrere Kähne angebunden, doch zunächst keine Menschen zu sehen. Wir stiegen aus und folgten einem schmalen, durch das Unterholz gehauenen Pfad. Er führte uns nach einem freien Platze, welcher durch das Fällen von Cinchonabäumen entstanden war. Wir befanden uns auf dem Arbeitsfelde einer Gesellschaft von Cascarilleros.
Cascarillero heißt Rindensammler. Diese Leute gehen in die Urwälder, um die China- oder Fieberrinde zu gewinnen. Das ist mit großen Schwierigkeiten verbunden und kann nur von kräftigen, erfahrenen und kühnen Menschen betrieben werden. Man fällt die Bäume dicht an der Wurzel, zieht die Rinde in Streifen ab und trocknet sie entweder an der Sonne oder über einem Feuer. In Gegenden, wo man künstliche Chinabaumpflanzungen angelegt hat, werden die Bäume nicht gefällt, sondern nur sorgfältig abgerindet, was selbstverständlich ein viel vernünftigeres Verfahren ist.
Es waren hier gegen zwanzig Cascarilleros vorhanden, welche uns zunächst nicht allzufreundlich begrüßten. Als sie aber erfuhren, daß wir keine Rindensammler, also nicht Konkurrenten von ihnen seien, änderte sich ihr Verhalten sofort zum Besseren. Das waren halb nackte, von der Sonne fast schwarz gebeizte Gestalten mit kühnen Gesichtszügen und überaus kräftigen Gliedmaßen, welche für einen reichen, oben in Exaltacion wohnenden Unternehmer arbeiteten. Sie hatten bedeutende Vorräte liegen, und zwei von ihnen wollten noch heute in einem Boote nach Exaltacion aufbrechen, um ihrem Arbeitgeber Bericht zu erstatten. Perdido fragte sie, ob sie ihn mitnehmen wollten. Sie waren für eine angemessene Bezahlung bereit dazu, und als er das hörte, sprach er nach langem Schweigen wieder das erste Wort zu mir:
»Gracias á Dios – Gott sei Dank, daß ich Sie nun nicht mehr zu sehen brauche! Hüten Sie sich, mir jemals wieder in den Weg zu kommen!«
»Gracias á Dios!« antwortete ich lächelnd. »Sie glauben nicht an Gott und sagen ihm doch Dank? Fahren Sie in Frieden von hier fort! Ich wünsche Ihnen alles Gute. Aber denken Sie an das, was ich Ihnen prophezeit habe; es wird gewiß in Erfüllung gehen!«
Er schaffte seine Habseligkeiten in das betreffende Boot und kehrte dann nach dem Arbeitsplatze zurück, wo die Cascarilleros sich jetzt im Schatten lagerten, um auszuruhen, denn die Mittagszeit war nahe. Ich wollte das Geschäft dieser Leute gern kennen lernen und fragte sie darum, ob sie mir erlauben würden, einige Tage bei ihnen zu bleiben. Sie waren sehr gern einverstanden.
Ein Mitglied der Gesellschaft war fortgegangen, um nach Calisaya-Bäumen zu suchen, welche die beste Fieberrinde liefern. Der Mann kam jetzt zurück. Er sah zunächst mich und die drei Indianer und gab uns die Hand. Dann fiel sein Blick auf Perdido; er machte eine Bewegung der Ueberraschung und rief erstaunt:
»Sennor Riberto! Sie hier, hier im Ciachonawalde! Sollte man eine solche Begegnung für möglich halten!«
Perdido hatte an der Erde gesessen; jetzt sprang er auf. Er sah grad so verstört aus wie damals, als ich von seinem bösen Gewissen gesprochen hatte. Er wußte, daß die Worte des Cascarillero ihm galten, denn sonst wäre er nicht aufgesprungen; dennoch fragte er beinahe stammelnd:
»Mit wem sprechen Sie? Meinen Sie etwa mich?«
»Ja, gewiß.«
»Dann scheinen Sie mich mit einem andern zu verwechseln.«
»Nein, Sennor. Von einer Verwechselung kann keine Rede sein. Sie wissen, daß ich Sie genau kenne, so genau, daß ein Irrtum vollständig ausgeschlossen ist.«
»Ich weiß nichts, ganz und gar nichts!«
»Aber Sie kennen mich doch?«
»Nein.«
»Nicht? Sennor Riberto, Sie werden doch Ihren früheren Nachbar Antonio Gorra kennen, der tagtäglich mit Ihnen zusammen gewesen ist!«
»Den Teufel werde ich!« schrie ihn da Perdido zornig an. »Ich heiße weder Riberto noch kenne ich einen Menschen, der sich Antonio Gorra nennt. Wenn Sie nichts anderes wissen, als mir mit solchen Albernheiten zu kommen, so schweigen Sie lieber, Sie dummer Mensch!«
Er wollte sich abwenden; da aber faßte ihn Gorra beim Arme und antwortete:
»Sie scheinen nicht zu wissen, wie man mit anständigen Leuten verkehrt, Sennor! Selbst wenn ich Unrecht hätte, so befände ich mich infolge einer wirklich großen und ganz seltenen Aehnlichkeit in einem sehr verzeihlichen Irrtume, den Sie mir höflich zu widerlegen hätten. Auf eine Beleidigung, wie Sie ausgesprochen haben, antworte ich nur mit dem Messer. Ueberdies täusche ich mich nicht im mindesten. Sie sind der junge Riberto, welcher – – –«
»Halt!« brüllte Perdido. »Kein Wort weiter, sonst – – –!«
»Was, sonst?« fragte Gorra furchtlos. »Wollen Sie etwa wagen, mir zu drohen?«
Er hatte ihn noch immer beim Arme. Ich saß ganz in der Nähe der Stelle, auf welcher die beiden standen, und erhob mich, um bei einem zusprechenden Handgemenge nicht im Wege zu sein.
»Ja, das wage ich!« schrie Perdido. »Ich dulde es nicht, daß ich mit einem Menschen verwechselt werde, der – – – –«
Er hielt inne, denn er merkte, daß er im Begriffe stand, sich zu verraten. Gorra vollendete den unterbrochenen Satz mit einem sehr bezeichnenden Lächeln:
»Der mit dem ganzen Vermögen seines Vaters durchgegangen ist. Nicht wahr, das wollten Sie doch sagen?«
Perdido riß sich von ihm los, stieß ein förmliches Wutgeheul aus, zog ein geladenes Pistol aus dem Gürtel und – – – wollte schießen, kam aber nicht dazu, denn ich hatte von hinten blitzschnell die Hand, welche das Pistol hielt, ergriffen, und sagte:
»Hier wird nicht geschossen, Sennor Perdido oder Sennor Riberto! Sennor Gorra hat recht. Sie sind grob gewesen und müssen ihn um Verzeihung bitten.«
Er drehte sich nach mir um und brüllte mich an:
»Laß mich los, Hund, sonst ist es aus mit Dir!«
Da ich ihn dennoch fest hielt, zog er mit der linken Hand das zweite Pistol und richtete es auf mich. Der Hahn knackte; da krachte er aber auch wie ein Sack auf den Boden nieder. Ich hatte ihm meine Faust gegen die Schläfe geschlagen, mein alter, bewährter Jagdhieb, auf dessen Wirkung ich mich stets verlassen konnte.
»Valgame Dios!« wurde gerufen. »Welch ein Hieb! Der Mann ist tot!«
»Nein,« antwortete ich; »er ist nur betäubt und wird in einigen Minuten wieder zu sich kommen. Nehmen Sie ihm die Waffen weg, Sennores, damit er dann kein Unheil anstiften kann!«
Dies geschah. Die beiden Cascarilleros, welche ihm versprochen hatten, ihn mitzunehmen, erklärten, daß sie dies nun lieber nicht thun möchten. Ich aber wollte ihn nicht wiederhaben, und hierbleiben konnte und sollte er auch nicht; darum brachten wir sie so weit, daß sie sich bereit zeigten, ihm ihr Versprechen doch zu halten. Der Sicherheit wegen nahmen sie seine Flinte, die Pistolen und auch das Messer und trugen sie nach dem Boote, um sie dort einstweilen zu verstecken.
»Ich habe doch recht, Sennores,« erklärte Antonio Gorra. »Er heißt Riberto und ist genau derjenige, den ich meine, ein früherer Nachbar und Spielkamerad von mir.«
»Woher?« fragte ich.
»Buenos Aires. Mein Vater war arm, der seinige aber ziemlich reich, ein Bankier und sehr braver, frommer Mann. Desto schlimmer war sein Sohn, ein Taugenichts, der dem Vater nichts als Gram und Sorge bereitete. Dieser mußte einst nach Rio de Janeiro reisen, und während der Zeit seiner Abwesenheit hat der Sohn leeren Tisch gemacht. Als der Bankier nach Hause kam, war hier dieser sogenannte Sennor Perdido mit der Kasse fort, und bald stellte sich gar noch heraus, daß er sich außerdem noch reichlich mit Anweisungen, Wechseln oder Checks oder wie diese Papiere heißen, von denen ich nichts verstehe, versehen hatte, um an andern Orten auch noch bedeutende Gelder zu erheben. Diese Summen mußte sein Vater später ersetzen und machte Bankerott. Die Mutter starb vor Gram; der alte Sennor Riberto verschwand und ist nicht wieder gesehen worden; auch über den jungen habe ich nichts vernommen, bis heute, wo er plötzlich vor mir stand.«
»Und Sie sind fest überzeugt, daß er es wirklich ist?«
»Fest; ich kann es mit hundert Eiden beschwören.«
»Dann bin ich froh, daß ich diesen Menschen losgeworden bin.
Es ist am besten, Sie schaffen ihn ins Boot, damit er uns aus den Augen kommt.«
Zwei Cascarilleros waren bereit, ihn fortzuschaffen. Eben als sie ihn anfassen wollten, bewegte er sich. Er kam zu sich, sprang auf und wollte nach den Waffen greifen. Er vermißte sie und verlangte sie in drohendem Tone zurück; ich sah, daß er es ganz besonders auf mich abgesehen hatte. Da aber bedeutete ihm Antonio Gorra:
»Seid wer Ihr wollt, Sennor, ob Perdido oder Riberto, das soll uns gleich sein; aber hier ist Eure Rolle ausgespielt. Eure Waffen liegen im Boote, und Euch werden wir auch dorthin bringen. Die Kameraden, mit denen Ihr fortwollt, mögen sogleich mit Euch abrudern. Dann sind wir Euch los. Ein Kerl wie Ihr gehört nicht unter solche Caballeros, wie hier versammelt sind!«
Perdido wollte Widerspruch erheben, wurde aber von vier oder fünf sehr kräftigen Cascarilleros gepackt und fortgeschafft. Als er nun einsehen mußte, daß jeder Widerstand nutzlos sei, drehte er sich noch einmal nach mir um und drohte mir mit der geballten Faust. Die, welche ihn ins Boot gebracht hatten, kamen nicht eher zurück, als bis dasselbe auf dem Wasser schwamm und die Mitte des Stromes erreicht hatte. Von ihnen erfuhr ich, daß seine letzten Worte gewesen waren:
»Sagt dem verdammten Aleman1, daß ich, wenn er mir jemals wieder vor die Augen kommt, mit ihm abrechnen werde!«
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