IV.

[566] Im Dorfe ging es um! Einstweilen nur des Nachts – – – ganz heimlich und verschwiegen! Es ließ sich von keinem Menschen sehen – – – es trat ganz leise auf – – und wenn ja jemand kam, etwa der Nachtwächter, so versteckte es sich schnell hinter einen Zaun oder hinter eine Ecke. Wenn er vorüber war, so ging es tappelnd weiter. Der Geist war ungeheuer pfiffig. Und darüber brauchte man sich gar nicht zu wundern. Er hieß nämlich – – – das Karlinchen!

Wenn Menschengeister umgehen, so tun sie das oft ohne jeden triftigen Grund. Sie sind dann eigentlich nur Gespenster, doch keine wirklichen Geister. Wenn aber eine kluge Ziege, von der man weiß, daß sie wahrhaftig Geist besitzt, auf den Gedanken kommt, im Dorfe umzugehen, so ist das etwas ganz Anderes. Sie wird das niemals tun, ohne von einer wohlüberlegten Ursache dazu getrieben worden zu sein. Das war hier folgende:

Wenn die Mutter mit dem Herzle klöppelnd vor[566] dem Häuschen saß, so sprachen sie jetzt von fast weiter nichts, als nur von der Ausstellung, die nun ganz nahe war. Das Karlinchen lag dabei und mußte alles hören, ohne über ihre besondere Ansicht gefragt zu werden. Und die hatte sie doch auch! Die Menschen sollen ja nicht denken, daß sie klüger als gewisse Tiere sind, bloß, weil sie ein Paar Beine weniger haben. Die Intelligenz steckt doch im Kopfe; das scheint man sogar in zweibeinigen Kreisen nun endlich eingesehen zu haben! Vergleicht man aber einen Ziegen- mit einem Menschenkopfe, so wird man auf der Stelle sehen, daß dem letzteren gerade dasjenige fehlt, was vorhanden sein muß, wenn man seinen Gedanken und Entschlüssen Nachdruck geben will. Und doch kommt sowohl im körperlichen, als auch im geistigen Leben meist alles nur auf diesen Nachdruck an. Wer nicht zu stoßen versteht, der bringt keinen Feind, der sich an ihn wagt, über das Brückle hinüber, das ihn von ungehobelten Personen zu trennen hat, zum Beispiel von Fräulein Rosalia!

Diese war kürzlich hier gewesen, um zu fragen, was es mit den besagten neunundvierzig Talern für eine Bewandtnis habe; sie könne es von ihrem Vater nicht erfahren, weil der selbst nichts davon wisse. Der Lochtaler aber mit der Elsterperle stamme noch vom seligen Großvater her. Was man mit diesen Talern wollte, das konnte das Karlinchen nicht begreifen, zumal dabei von dem Kommodenschubfache die Rede war, welches sie niemals hatte offen stehen sehen.

Einige Tage später hatte der Herr Lehrer ihr die pflichtschuldige Semmel gebracht, dieses Mal sogar mit einem Stückchen Schweizerkäse dazwischen. Vor Erstaunen hierüber war ihr der Mund weit offen stehen geblieben. Da hatte der Herr Lehrer lachend gesagt:[567]

»Ja, ja, mein liebes Karlinchen, heute kann ich mir das leisten! Das Honorar für mein Buch ist angekommen. Es war ein schönes Geld, ist aber nun schon fast alle. Ich habe den Musterwirt bezahlt, der mein Wohltäter war, ohne daß ich es wußte.«

»Hat er denn das Geld genommen?« fragte da schnell die Mutter.

»Ja, und mir schriftlich Quittung ausgestellt,« antwortete Bernstein.

Da hatten Mutter und Tochter einander so erschrocken angesehen, daß es dem Karlinchen fast bange dabei geworden war.

»Er war nicht recht bei Aufmerksamkeit, als er die Quittung unterschrieb,« fuhr der Lehrer fort. »Er zerriß sie dreimal, und erst beim vierten Male brachte er sie fertig. Er scheint jetzt überhaupt nicht mehr ganz bei sich zu sein. Man kann vieles nicht begreifen, was er tut. Am sonderbarsten aber ist sein Verhältnis zu der Anna vom Neubertbauerhof, die seit dem Tode ihres Vaters ein liebes, herzensgutes und bescheidenes Mädchen geworden ist. Sie kommt zuweilen ja auch zu euch. Man sieht sie oft mit ihm zusammen. Aber er scheint nicht recht zu wissen, ob er sie gern haben, oder ob er sie hassen soll. Wenn er sie sieht, fährt er sie wie ein bissiger Hofhund an und gebietet ihr, sich augenblicklich zu entfernen. Das tut sie aber nicht. Sie bleibt und schaut ihm freundlich ins Gesicht. Dann wird er auch freundlich, immer freundlicher, und es soll schon vorgekommen sein, daß er sie an sich gezogen und auf das Haar geküßt hat, was er bei seiner Tochter niemals tut. Ist das nicht sonderbar?«

Die Frauen nickten. Das Karlinchen auch, obgleich man nicht darauf achtete. Der klugen Ziege fiel[568] das Küssen auf. Mit der Freundlichkeit des Musterwirtes war es ein ganz eigenes Ding. Es steckte stets etwas Unfreundliches dahinter. Wäre das Karlinchen an Stelle der Anna gewesen, so wäre er wohl nicht dazu gekommen, seinen Schnurrbart auf ihr Haar zu drücken. Das kommt aber davon, daß die Anna keine Hörner hat!

»Wißt Ihr das schon von den beiden Hypotheken?« sprach der Herr Lehrer weiter. »Das ist etwas, was mir zu denken gibt! Er ist gleich in der ersten Woche nach seiner Genesung zweimal mit der Anna nach der Stadt gefahren, um erst die eine und dann auch die andere Hypothek löschen zu lassen. Dabei hat er vor Gericht zwei Quittungen ausgestellt, daß sie ihm das Geld bar bezahlt habe. Im Gasthofe, wo er ausspannen ließ, hat er die Hypothekenbriefe vorher schon in den Ofen gesteckt und vor mehreren Zeugen verbrannt. Aber kaum war er hier wieder angekommen, so behauptete er gegen seine Tochter, die ihm Vorwürfe hierüber machte, er wisse von der ganzen Sache nichts. Vorgestern hatten wir Komiteesitzung bei ihm, im reservierten Zimmer. Als er kam, brachte er die Anna mit, obgleich der Zutritt für andere eigentlich nicht gestattet ist. Er stellte den Antrag, ihn zu entlassen. Er müsse sein Amt als Vorsitzender niederlegen, weil er nicht der rechte Mann dazu sei. Das war uns außerordentlich lieb. Nach dem, was in der letzten Zeit geschehen ist, wurde das Protokoll sehr gern aufgesetzt. Er unterschrieb es selbst, und wir wählten den Herrn Pastor an seine Stelle. Heut' nun tritt er trotzdem wieder als Vorsitzender auf und sendet uns ein Zirkular, um uns für den Abend zur Sitzung einzuberufen. Hierauf war ich bei ihm, um meine Schuld zu bezahlen, und stellte ihm bei dieser Gelegenheit[569] vor, daß er doch ausgetreten sei. Er sah mich ganz betroffen an und behauptete, kein Wort davon zu wissen! Der Mann scheint irre zu sein. Er war schon damals so verstört, als er mich am Tage vor dem Begräbnisse des Neubertbauers mit hinauf in seine Stube nahm.«

Das Karlinchen wurde nachdenklich. »Da drüben im Dorf scheint vieles nicht mehr richtig zu sein,« dachte es. »Die Menschen haben schwache Köpfe. Man müßte sich viel besser um sie bekümmern. Aber ich kann nicht gut von meinem Bergle fort. Das könnte höchstens nur des Nachts geschehen, und da schließt mich die Mutter immer ein!«

Was nun noch besprochen wurde, das war fast noch interessanter als das Vorhergehende. Es betraf meistenteils die Ausstellung. Daß der Herr Minister kommen werde, das war gewiß. Und wer noch kommen wollte, das war der Herr aus Brüssel mit seiner Dame. Er hatte der Mutter geschrieben, daß er einen Geschäftsfreund aus Mexiko mitbringen werde, der große Geschäfte in dem Artikel ›Rebozo‹ mache und soeben bei ihm sei. Vielleicht könne hieraus eine für die erzgebirgische Klöppelei sehr nützliche Verbindung mit dem spanischen Amerika entstehen.

Das Karlinchen horchte auf. Rebozo! Das Wort kam ihr so ziemlich spanisch-amerikanisch vor; sonst aber war es ihr völlig unbekannt. Auch die Mutter fragte, was das sei. Denn was das Karlinchen nicht weiß, das kann die Mutter erst recht nicht wissen. Der Herr Lehrer aber zeigte sich orientiert. Er sagte, Rebozo sei der lang herabwallende, kostbare Gesichtsschleier der Mexikanerinnen, überhaupt der Amerikanerinnen spanischer Abstammung. Wenn der fremde Herr wirklich[570] komme und die hiesige Klöppelei für entwickelungsfähig halte, so könne sich derselben ein neues und ebenso umfang- wie segensreiches Absatzgebiet eröffnen. Der Deutsche sei eben immer noch zu sehr Michel. Er sehe sich nicht eher um, als bis der Zufall ihm die Augen öffne.

Das Wort Michel leuchtete dem Karlinchen sofort ein. Sie sah verständnisinnig zu dem Herrn Lehrer auf. Dieser sprach noch längere Zeit über die verschiedenen Vorbereitungen, welche in fast jedem Hause für die Ausstellung getroffen wurden. Was das Karlinchen dabei zu hören bekam, das fuhr ihr dieses Mal nicht in die Hörner, sondern ausnahmsweise ganz nieder in die Beine. Flaggen, Wimpeln, Fahnen, Blumen, Kränze, sogar Guirlanden quer über die Wege! Das ging ihr durch die Ohren erst einfach in alle Gefühls- dann aber zehnfach in alle Bewegungsnerven! Man kann nicht umhin, hier daran zu erinnern, daß die Ziegen für neugierig ausgeschrieen werden. Die Wissenschaft hat konstatiert, daß dies wahr sei, aber die mag sich nur sein an ihrer eigenen Nase zupfen, denn nirgends gibt es so neugierige Ziegen als grad eben in der Wissenschaft. Sie schnobern und naschen an allem herum, was in ganz andere Mäuler gehört! Und wenn man sich über diese ihre Neugierde wundert, so hängen sie ihr einen Mantel um und geben sie für Wißbegierde aus. Handelt es sich um etwas zum Trinken, so nennen sie es sogar Wissensdurst! Nun, das Karlinchen gehörte eben auch zu dieser edlen Art! Sie fühlte Wissensdurst! Wenn man jahraus, jahrein fast niemals vom Bergle weg und höchstens nur ein mal bis hinunter auf die Wiese gehen darf und dafür täglich eine ganze Kanne, das sind zwei Nößel, Milch[571] zu zahlen hat, so sind das jährlich über siebenhundert Nößel Milch. Dafür kann man schon einmal etwas wagen, was sich der Mensch fast jeden Tag erlaubt, obgleich er keine Milch zu liefern hat, nämlich sich des Abends vom Häusle fortzuschleichen, um seinen scheinbar wissenschaftlichen Durst zu löschen. Nur hat man das so schlau wie möglich anzufangen, wenn man nicht Gefahr laufen will, von der Mutter entweder vorher fest eingeriegelt oder nachher in flagranti attrappiert zu werden!

Indem das Karlinchen diese köstlichen Gedanken in sich bewegte, war das Gespräch zu Ende gegangen. Der Herr Lehrer griff nach seinem Hute und sagte:

»Und nun noch eins, bevor ich gehe. Heut' sind die Festjungfrauen bestimmt worden – – –«

»Ich denke, die sind schon längst bestimmt?« fiel da die Mutter ein.

»Von wem?«

»Die Rosalia sprach doch davon. Sie werde die Oberste sein, sagte sie. Das weißseidene Kleid ist ja schon fertig!«

»Ein weißseidenes Kleid für sie? Nach den Ereignissen der letzten Zeit? Festjungfrauen sind doch wohl Ehrenjungfrauen! Was sie sich gedacht hat, geht doch uns vom Komitee nichts an! Wir haben zu bestimmen! Sie, die sich gern Brüstende, ist es allerdings gewesen, welche das Wort Festjungfrau zum ersten Male ausgesprochen hat. Es ist leider weitergetragen worden. Der Herr Pfarrer und ich, wir waren dagegen, sind aber überstimmt worden. Doch ist es uns gelungen, dieser Angelegenheit eine solche Form zu geben, daß der Herr Minister und die anderen behördlichen Gäste nicht durch sie belästigt werden können.[572] Diese Herren sollen uns für das halten, was wir sind, nicht aber für Väter eitler Töchter, die sich gern sehen lassen wollen. Wir haben die Liste aufgestellt, Fräulein Rosalia ist nicht dabei. Es gibt allerdings eine ›Oberste‹, wie sie beliebt hat, es zu nennen. Diese Oberste wurde derart gewählt, daß jeder den Namen, den er wollte, auf einen Zettel schrieb und den Zettel auf den untersten von zwei Tellern legte. Als sie dann vorgelesen wurden, stellte sich zur allgemeinen Freude heraus, daß es ein ganzes Dutzend Papiere, aber nur einen einzigen Namen gab. Der lautete – das Herzle!«

»Ich?!« rief die Genannte erschrocken aus.

»Ja, du!« nickte er, indem sein Auge strahlend auf ihrem jetzt tief erglühenden Gesichtchen ruhte.

»Warum ich, Herr Lehrer?! Ich bin doch – ich bin – ich bin –«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Es stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Die Mutter weinte auch. Da legte der Lehrer der Freundin seiner armen Jugend die Hand auf das Haupt und sagte:

»Herzle, die Gemeinde, die ganze Gemeinde will es so, und – der König auch!«

»Der König? Gar der König auch? Wie ist das möglich?« fragte sie erstaunt.

»Sag' erst, ob du willst. Ich bin vom Komitee zu dir geschickt worden, um dich zu fragen.«

»Wenn es nur die Gemeinde wäre, so würde ich ›nein‹ sagen. Du weißt, warum!« antwortete sie mit einem tiefen, seufzenden Atemzuge. »Wenn es aber sogar auch der König will, so muß ich wohl gehorchen. Woher weiß er denn aber von mir?«

»Aus meinem neuen, zweiten Buche. Ich habe dich und die Mutter als ein Beispiel genannt, als einen[573] Beweis, daß die Armut ganz wohl das unlautere Kapital besiegen kann, wenn sie dem lieben Gott vertraut, die Hände fleißig regt und ebenso fleißig darüber nachdenkt, wie man sich selbst auch helfen kann. Das hat dem hohen Herrn gefallen. Es ist aus seinem Privatkabinett ein Schreiben an den Herrn Pastor gekommen, dessen Inhalt du nur dann erfahren wirst, wenn du einwilligst, die Oberste der Festjungfrauen zu werden.«

»So muß ich freilich wohl. Aber ich bitte dich, verlange nicht von mir, daß ich deswegen gar besonderen Staat zu machen habe!«

»Herzle, du kannst genau so kommen, wie ich dich hier vor mir sehe. Es bedarf nicht eines einzigen Schmuckes. Höchstens ein Rösle aus meinem Schulgarten. Und das bringe ich dir gern, wenn du es mir erlaubst.«

Sie nickte nur. Er drückte ihr die Hand. Der Mutter auch. Dann wollte er gehen. Aber das machte sich nicht so schnell, als er dachte. Das Karlinchen stand nämlich auf und tat einen Freudensprung, wie man ihn bei ihr noch gar nicht gesehen hatte.

»Das ist drollig!« lachte er. »Fast sollte man denken, daß sie alles verstanden habe und sich ebenso darüber freue wie wir. Karlinchen, von heute an gibt es auf dem Bergle eine Festjungfrau!«

Da schielte ihn die Ziege nur so von der Seite an. Es war die reine Ironie. Sie wußte es besser, viel besser als er; aber sie verriet es nicht. Doch als sie ihn bis hinab zum Brückle begleitet hatte und ihm nachschaute, wie er über die Wiese ging, machte sie eine zweite Auflage des Freudensprunges und sagte bei sich selbst:[574]

»Nur eine Festjungfrau hier auf dem Bergle? Warte nur, Bursche, was du für Augen machen wirst! Da kenne ich den König doch noch besser! Der weiß schon, was er will! Ich sehe da, daß ich mich nun selbst einmal bekümmern muß. Ich muß unbedingt heut' abend in das Dorf. Es gilt zu revidieren. Freilich heimlich, ungeheuer heimlich! Wie fange ich es nur an, daß ich nicht eingeschlossen werde? Der Riegel – der Riegel – der Riegel!«

Sie ging das Bergle langsam wieder hinauf und blieb für kurze Zeit bei ihren Herrinnen stehen, um sie mit einem Gesicht zu täuschen, welches so ziegenhaft wie möglich war. Sie wollte gerade jetzt nicht für eine jener ihrer Kommilitonen gehalten werden, welche Wissensdurst besitzen. Als sie glaubte, dies erreicht zu haben, wandte sie sich mit einer Miene, von welcher ganz gewiß kein Wässerlein trübe werden kann, dem Stalle zu, um ihn auf ihr Vorhaben hin zu untersuchen.

Dem Riegel war nicht beizukommen; das sah sie sofort ein. Dafür erschien ihr aber die hintere Wand so ziemlich glückverheißend. Sie bestand aus Brettern, welche unten von der Stallfeuchtigkeit zerfressen waren. Es galt eine Probe. Sie ging hinein und rannte mit den Hörnern gegen das eine Brett. Es gab nach. Beim nächsten Stoße auch das zweite.

»Fein!« dachte sie. »Jetzt muß ich aufhalten, sonst merkt es die Mutter. Auf die kommt es an. Vor dem Herzle wäre mir gar nicht bange. Heute abend habe ich nur noch nachzuhelfen. Dann gehe ich in die Wicken!«

›In die Wicken gehen‹ ist nämlich im Erzgebirge genau dasselbe, was man in anderen Gegenden auskneifen,[575] durchbrennen, oder gar, sich heimlich drücken, nennt. Man sollte eigentlich einmal irgend einem berühmten Psychologen die Frage vorlegen, durch welche ›Assoziationen der Ideen‹ das sonst so interne Karlinchen auf so außerordentlich externe Gedanken kommen konnte. Vielleicht schriebe er ein mehrbändiges Werk darüber, daß kein allzu großer Unterschied zwischen der Tier- und der Menschenseele ist, wenn man die eine leugnet und von der anderen so viel wie gar nichts weiß.

Ob das, was in dem Karlinchen steckte, Seele war oder nicht, das bleibt sich gleich. Aber daß sie Hörner hatte, das kann unmöglich bestritten werden. Und diese waren dazu da, die inneren Entschlüsse auszuführen, mochten diese nun stammen, von wem es ihnen beliebte. Dabei ist hier zu konstatieren, daß die wackere Ziege sich um so mehr mit ihren Fluchtgedanken beschäftigte, je näher der Abend kam. Sonderbarerweise wollte ihr der gewaltsame Ausbruch jetzt immer weniger gefallen.

»Zwei neue Bretter kosten in dieser halben Länge doch wenigstens dreizehn Groschen,« dachte sie. »Es wäre doch hübsch, wenn ich der Mutter dieses Geld ersparen könnte! Wie schön, wenn sie gerade heute einmal vergäße, die Tür zuzuriegeln. Das ist aber in meinen acht Lebensjahren erst zweimal vorgekommen!«

Dieser Wunsch grub sich so fest ein, daß sie ihn nicht wieder loswerden konnte. Sogar beim Abendmelken dachte sie an ihn. Und als sie dann aufgefordert wurde, ›zu Bette zu gehen‹, blieb sie an der Stalltür stehen, drehte sich noch einmal nach der Mutter um, sah sie sehr scharf an und gab dabei den Stoßseufzer frei: ›Die Tür hat heute hier aufzubleiben! Ich, das Karlinchen, will es so!‹ Dann ging sie hinein und legte sich nieder.[576]

Es verging eine Viertelstunde, eine halbe, eine ganze Stunde. Niemand kam. Punkt zehn Uhr stieg die Mutter mit dem Herzle die Treppe hinauf, nachdem sie die Haustür von innen verschlossen hatte. Die Kammertür daneben quietschte beim Aufmachen einmal, beim Zumachen noch einmal. Das Karlinchen holte erleichtert Atem wie ein Orgelblasebalg, wenn er sich nach dem letzten Ton zusammenziehen darf.

»Das ist geradezu großartig!« sprach das, was in ihr steckte, zu sich selbst. »In zehn Minuten schlafen beide fest. Ich habe mit meinem letzten Blick die Mutter hypnotisiert! Oder war das schon mehr Suggestion? Jetzt soll mir nur noch einer kommen und mir sagen, daß es keine direkte Verbindung zwischen verwandten Geistern gebe! Ich stoße ihn von dem Brückle, daß es nur so kracht! Der Mutter aber gebe ich aus lauter Dankbarkeit morgen drei volle Nößel Milch, nicht bloß eine Kanne! Nun aber will ich horchen. Bis es elf schlägt, warte ich; dann aber schleiche ich mich fort.«

Auch diese Stunde verging. Es schlug zweimal elf vom Turm, erst mit der kleinen, dann mit der großen Glocke. Das Karlinchen zählte beide Male, um ja nicht irre zu gehen. Als es stimmte, machte sie sich auf. Das Gärtle hinab und über das Brückle hinüber trat sie sehr leise auf. Dann aber gab es weichen Wiesenweg; da konnte sie sich eher gehen lassen. Zunächst tanzte sie eine kurzbeinige Polakka, dann einen munteren Hüppelschottisch, hierauf einen Linksumgalopp und endlich ein großes Ringelrennen. Da aber war der ganze Atem weg. Sie mußte ein Weilchen stehen bleiben, um die Lunge wieder in Ordnung zu bringen. Als dies geschehen war, schlug es gerade zwölf.

»Die Geisterstunde!« dachte sie. »Ich verstelle mich![577] Wenn ich erwischt werde, tue ich, als ob ich gar keinen Körper habe. Ich schaffe ihn um die Ecke!«

Dies zu tun, fand sich für sie wiederholt Gelegenheit, weil infolge der nahen Ausstellung jetzt länger gearbeitet wurde als sonst. Man ging also später schlafen. Darum war von dem, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich vom Revidieren, jetzt noch keine Rede. Vielleicht vor zwei Uhr nicht. Diese Zeit konnte man nützlicher verbringen als durch zweckloses, weiteres Umherstreifen. Eine hintere Gartentür stand offen. Sie ging hinein. Da gab es Beete, Sellerie, Grünkohl, Blaukohl, Möhren, sogar Rosenkohl. Auf dem Bergle waren solche schöne Sachen streng verboten. Hier aber wohl nicht, zumal wenn man als Geist auftritt! Es haben noch ganz andere Geister sich gern mit Kohl beschäftigt! Das Karlinchen begann, das Leben zu genießen. Der Garten war keine Landkarte. Und wenn er eine gewesen wäre, so hätte man sie bei der hier herrschenden Dunkelheit nicht lesen können, denn der Mond stand auf der anderen Seite des Hauses. Das Karlinchen wußte also nicht, wo es sich befand, nämlich grad hinter dem Gasthofe. Die zwei erleuchteten Fenster da oben, welche offen standen, gehörten zur Stube des Musterwirtes.

Dieser schlief noch nicht. Seine Tochter befand sich bei ihm. Sie stand vor dem Tische und strich soeben neunundvierzig harte Taler in die Tasche ihres Poil de chêvre-Rockes, dazu den bekannten Lochtaler mit der Elsterperle an der Schnur. Ihr Gesicht hatte einen festen, entschlossenen Ausdruck. Dasjenige ihres Vaters war bleich. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen.[578]

»Du willst es also tun? Wirklich? Wirklich?« fragte er.

»Ja. Es muß so sein. Und du hast nicht den Mut dazu! Meine Mutter ist die Vertraute ihres Vaters gewesen, ich aber war die deine nicht. Darum ist es so weit gekommen. Nun endlich hast du mir beichten müssen, hast keinen anderen Ausweg gewußt. Du sollst sehen, daß ich mir noch alles rette. Leg' dich ins Bett, und schlaf'! Ich aber geh' zum Bache und werfe die Taler hinein. Das hättest du damals gleich tun sollen!«

»Nein,« sagte er. »Ich hatte ihm bloß den einen Taler zu lassen und Anzeige zu machen. Die anderen hätte man dann in der Schublade gefunden. Da war die ganze Falschmünzerbande auf dem Bergle entdeckt, die Eltern des Herzle und auch die Eltern des Lehrers, die hätte ich natürlich in einen Topf zusammengeworfen.«

»So kommen jetzt die Kinder daran! Morgen vergrabe ich die Münzstöcke im Schulgarten. Du darfst das nicht. Uebermorgen auf dem Bergle das neue Silbergeld. Wir brauchen gar nicht Anzeige wegen Falschmünzerei zu machen, sondern nur zu sagen, daß das Herzle uns beschuldigt hat. Einen echten Taler mit einer Perle haben wir seit heut'. Wir zeigen ihn vor und verlangen, daß im Wasser nachgesucht wird, wo der Musteranton sich ersäuft hat! Da findet man das falsche Geld und wird dann weiterforschen. Wenn man entdeckt, was ich vergraben habe, dann kann der Lehrer mit dem Herzle Hochzeit feiern, aber ja nicht in der Kirche. Und daß man es entdeckt, dafür werde ich schon Sorge tragen! Hätte ich eher gewußt, was er über mich zu dir gesagt hat, so wäre es schon lange[579] mit ihm aus. Er soll erfahren, ob ich eine Ausstellung bin, zu der ein jeder kommen kann, dem es beliebt!«

»Gehst du gleich jetzt hinüber zum Bach?«

»Nein; der Mond scheint noch, und so eine Sache muß abgemacht werden, wenn es dunkel ist; das wird so um die zweite Stunde sein. Hast du noch viele Hundertscheine?«

»Eine ganze Menge! Ich habe seit längerer Zeit eine Pause gemacht, weil das Schuldbüchergeschäft so gut gegangen ist. Der Neubertbauer war fast noch der einzige, mit dem – – – der Neubert – – – der Staatsanwalt! – – – da ist er – – – da, da, da! Er schaut mich an! Er mahlt – – – er reibt – – – erbeutelt!«

»Nein, das bin ich!« schrie sie ihn an, indem sie ihn bei der Brust faßte und schüttelte. »Ich beutle dich! Mensch, nimm dich in acht mit deiner albernen Angst! Du jammerst dich sonst selbst in das Dekerment! Aber ich werde dich schon noch zum Schweigen bringen! Wenn du das alte Weib bist, so muß ich der Mann sein, der sich nicht fürchtet! Am besten ist es, ich schmeiße dich in das Wasser, anstatt die Taler! Du bist der Mörder und gehörst hinein! Ich werde nachher einmal dort nachschauen, ob es noch tief genug für einen Menschen ist, der es verdient hat, daß man ihn an derselben Stelle ersäuft, wo man den ermordeten Musteranton gefunden hat!«

»Mich, mich in das Wasser? Du, du, meine Tochter?« Er schüttelte sich und starrte sie schaudernd an.

»Ich, deine Tochter? Da lache ich dich aus! Dein ganzes Herz hat stets an dem Papiergelde gehangen, nicht aber an deinem Kinde. Nun jetzt, wo du die Rettung brauchst, denkst du plötzlich daran,[580] daß du eine Tochter hast. Für mich bist du nicht der Vater, sondern der Besitzer des Geldes, welches ich erben will. Deine Erbin will ich sein, weiter nichts!«

Da faßte er sie am Arme, bohrte sein Auge in das ihrige und sagte:

»Ich habe nichts dagegen, nichts. Dann mußt du aber auch alles erben, alles, alles, alles!«

»Was?«

»Nicht nur das Geld, sondern auch meine Schuld, mein böses Gewissen, welches mich jetzt peinigt Tag und Nacht!«

»Gib es her, alter Mann; gib es her! Das sind ja ganz dieselben Kinkerlitzchen, die man drüben auf dem Bergle hat. Dort sagt man, das böse Gewissen werde den Mörder des Musteranton gewiß noch an das Brückle treiben, an dem er ihn hinuntergeworfen hat. So gib mir dein Gewissen! Ich nehme es dir ab. Ich muß ja nachher sowieso an das Wasser; da werfe ich es hinein. Oder ich stelle es hin an das Brückle. Da kommt vielleicht das Karlinchen, was mich und dich nicht ausstehen kann, und stößt es mit den Hörnern hinab! Wenn du dann mit der Polizei gesprochen hast, so zieht diese es mit dem falschen Geld heraus und schafft es auf den Kirchhof hinaus und in das neue Neubertbauergrab, welches die Anna, die Protzin, ihrem Vater hat machen lassen, dreimal so groß wie das alte. Die hat nun wieder Geld! Dummkopf, der du bist!«

Sie stieß ihn auf die Seite und ging zur Tür hinaus. Er trat an das Fenster, legte die Hand an den schmerzenden Kopf, sah in die Nacht hinaus und sagte:[581]

»Dummkopf? Wenn es nur das wäre, wie froh wollte ich sein! Oft halte ich mich für wahnsinnig; aber ich bin es nicht. Es ist etwas ganz anderes! Mein Haus, der Körper, hat zwei Herren. Ich bin der eine, dem es gehört, der es erhalten will. Der andere tut alles, um es zu zerstören, um mich zu vernichten. Ich begegne ihm nie; ich kann ihn nicht erwischen. Aber sobald ich nur den Rücken wende, ist er da, denn er lauert Tag und Nacht vor meiner Tür und nimmt jeden Augenblick zusammen, um zu tun, was mich in Schaden bringt. Er liest meine Geschäftsbücher durch. Er durchstöbert mein ganzes Etablissement. Er verschenkt, was ich mit Fleiß erworben habe. Er vernichtet meinen guten Namen. Er spielt mit falschen Kartenspielern um hohe Summen. Er jagt mein gutes Gesinde fort und holt mir schlechtes dafür herein. Ganz und genau so, wie ich es mit – – – mit – – – mit ihm gemacht habe, als er noch lebte! Er hat es sogar so weit gebracht, daß meine Tochter nichts mehr von mir wissen will, weil das auch meine Absicht bei der seinen war! – – – Das Fürchterlichste dabei ist, daß ich alles anerkennen, bekräftigen und ausführen muß, weil er es in diesem meinem Körper tut. Er spricht mit meinen Lippen. Er gibt mit meiner Hand. Er schreibt mit meiner Feder! Ich bin ihm preisgegeben mit allem, was ich bin und was ich habe. Mein Haus, mein Geschäft, mein Vermögen befindet sich in seiner Gewalt. Er spielt mit meiner Seele und treibt mit meinem Geiste Allotria! Bei jeder Heimkehr fühle ich, daß er da oben im Gehirn nach jedem Gedanken geforscht hat, den ich nicht mitgenommen habe, als ich gegangen bin. Vor allem eines will er wissen, was ich verschweigen[582] muß, nämlich das Messer, das Messer – – – wohin ich es versteckt habe! Wenn er das erfährt, so geht er in diesem meinem Körper in den Busch hinaus und nimmt es unter der Klafter Holz heraus. Hierauf kommt er heim, stellt sich an den Schenktisch, wo er sich erstochen hat, und stößt es sich vor allen Leuten in die Brust. Dann heißt es überall: Der Musterwirt ist ganz genau so als Selbstmörder in die Grube gefahren, wie der Neubertbauer es ihm befohlen hat, der – – Neu – – – Neu – – –! Wie das wühlt! Ich fühle ihn – – –! Er steht schon hinter mir! Wer kann mir von ihm helfen? Der Pfarrer? Nein; ich beichte nicht! Der Lehrer? Nein, ich gestehe nie etwas! Die Rosalia! Sie ist die einzige, die allereinzige, bei der ich mich so stark und kräftig wie früher fühle, wenn ich sie bei mir habe! – – – Jetzt lege ich mich nieder. Ich muß schlafen – – – wenn ich kann. Aber das Licht lösche ich nicht aus; das muß brennen bleiben, denn – – denn – – – ich fürchte mich! Mögen die Leute denken, was sie wollen, wenn sie es sehen!«

Er brauchte in diesem Falle sich um die üble Nachrede nicht zu ängstigen. Seine beiden, hellen Fenster wurden nur von einer einzigen Person bemerkt, und diese Person war das Karlinchen. Sie schaute, während sie sich an dem Kohle gütlich tat, zuweilen zu ihm empor. So kam es, daß sie ihn stehen sah, als seine Tochter von ihm gegangen war. Ziegenaugen sind bekanntlich scharf. Sie erkannte ihn sofort.

»Das ist ja Herr Frömmelt!« dachte sie. »Ich glaube gar, daß dies hier sein Garten ist! Mir gerade recht! Wegen dem brauche ich mir kein Gewissen zu machen, denn er hat auch keins. Und wenn er eins[583] hätte und es käme zu uns an das Brückle, ich würde es anrennen und in das Wasser stürzen, daß es auf der Stelle ersaufen müßte! Ob ich ihm wohl einen Streich spielen könnte? Halt, ich hab's! Da drüben sind seine Blumenbeete; die Reseda riecht herüber. Kohl schmeckt zwar besser, und ich bin schon so satt, daß ich fast nicht mehr kann; aber ich gehe doch noch hinüber und fresse ihm seine ganzen Aurikel weg. Das soll ihn wohl erbosen!«

Dieser Vorsatz klang zwar nicht allzu schön, aber sie führte ihn trotzdem aus. Als es zwei Uhr schlug, hatte sie den ganzen Aurikelflor so vollständig intus, daß sie kaum mehr Atem holen konnte.

»Das nenne ich gekaut!« sagte das, was in ihr steckte, zu ihr. »Wenn meine Haut von Papier wäre, so müßte ich zerplatzen. Die Aurikel schmeckten zwar scharf bitterlich, und ich weiß noch nicht ganz genau, ob sie sich mit dem Kohl vertragen werden, aber wenn man Herrn Frömmelt etwas zuliebe tut, so soll man nicht nach solchen Dingen fragen! Es scheint, ich bin ganz kugelrund. Die Beine wackeln. Sie sind solche Lasten nicht gewöhnt. Aus dem Revidieren wird heute wohl nichts werden. Ich will lieber machen, daß ich nach Hause komme. Bett ist Bett!«

Sie versuchte, zu gehen. Es ging ungeheuer schwer.

»Hm!« lachte sie innerlich. »Jetzt müßte man einen Hüppelschottisch oder gar einen Linksumgalopp probieren! Ich würde dadurch unsere ganze Milchwirtschaft zu Grunde richten! Also Ruhe, nichts als Ruhe! Ich trolle mich heim!«

Sie nahm die Richtung nach der offenen Tür, durch welche sie gekommen war. Noch hatte sie diese nicht erreicht, so blieb sie stehen, denn sie hörte Schritte.[584] Es kam jemand, ging in einiger Entfernung an ihr vorüber und durch die erwähnte Tür hinaus.

»Das war ein Frauenzimmer!« dachte sie. »Mitten in der Nacht! Zwölf Minuten nach zwei! Wo doch jedes anständige weibliche Wesen – – hm! Ich doch auch! Aber das war nicht meinesgleichen und kommt mir also verdächtig vor. Ich mache mich hinterher, so sauer es mir bei dieser Leibesfülle auch ankommen wird!«

Gedacht, getan! Sie folgte der Vorangegangenen. Diese schritt nach der Wiese hinüber.

»Was? Da drüben wohnt ja weiter niemand als wir!« wunderte sich das Karlinchen. »Da muß ich schneller laufen!«

Sie beeilte sich. Der Mond war hinter den Bergen verschwunden. Aber das Karlinchen hatte, wie bereits gesagt, gute Augen. Sie sah die Gestalt und folgte ihr über die Wiese hinüber. Das ›Frauenzimmer‹ ging bis zum Brückle und blieb dann neben demselben stehen. Karlinchen schlich heran, leise, ganz leise!

Da kauerte sich die andere an dem Wasser nieder. Sie griff mit den Händen in den Falten ihres Rockes herum.

»Ist das nicht der Poil de chêvre-Rock?« fragte sich das Karlinchen. »Dann wäre es ja die Rosalia! Warte Mamsell, dir muß ich einmal in das Gewissen schauen, ob du es auch wirklich bist! Was hast du hier zu suchen?«

Sie trat hart hinter die Kauernde und schob ihren Kopf vor, um ihr in das Gesicht zu sehen. Der lange Ziegenbart strich an der Wange der Wirtstochter hin; sie drehte sich herum. Ein langer Bart, ein noch längeres Gesicht – – zwei große, große Augen und[585] zwei lange, lange Hörner darüber! So mitten in der Nacht – – so plötzlich, unerwartet – – ohne jedes Geräusch – – ganz Kopf an Kopf mit ihr!

»Alle guten Geister! Der Teufel, der Teufel, der Teufel!« brüllte sie in unbeschreiblichem Schrecke kreischend auf und fuhr in die Höhe.

»Die Rosalia, wirklich die Rosalia!« jubelte es in dem Karlinchen. »Die habe ich hier fest, endlich, endlich, endlich! Und mich nennt sie den Teufel! Warte, Mustertochter, der soll dich nun auch holen, und zwar sofort, hier auf der Stelle!«

Sie trat zwei Schritte zurück und senkte den Kopf, holte aus und tat den kräftigsten Stoß, der ihr je in die Hörner gekommen war. Fräulein Rosalia stieß einen unartikulierten Schrei aus und stürzte rücklings und kopfüber in das Wasser, welches sich sofort über ihr schloß. Das Karlinchen trat ganz an die Flut heran und schaute hinein. So stand sie lange, lange Zeit. Was sie gedacht hat, das konnten nur die Wellen erraten, weiter niemand. Dann drehte sie sich um und ging leise, leise über das Brückle.

Als sie hinüber war, machte sie noch einmal rechtsumkehrt und senkte drohend die Hörner, als ob sie sagen wollte: »Jetzt bist du ganz genau dort, wohin du gehörst. Komm mir ja nicht wieder herauf! Das Brückle ist die Grenze!«

Dann schwenkte sie wieder um und schlich sich auf den vorsichtigen Sohlen ihres auch nicht ganz guten Gewissens nach dem Stalle, um sich von dem heutigen Abenteuer auszuruhen. Sie war überzeugt, irgend etwas Großartiges geleistet zu haben, nur wußte sie nicht genau, ob drüben bei den Aurikeln oder hier am Wasserbrückle. – –[586]

Die Mutter und das Herzle standen punkt fünf Uhr auf, wie alle Tage. Dabei sagte die erstere:

»Ich bin vor Sorge einige Male aufgewacht. Es fiel mir ein, daß ich vergessen habe, den Stall zuzuriegeln. Was wird da das Karlinchen von mir denken! Ich muß gleich nach ihr schauen!«

Das Herzle wollte mit dabei sein. Sie mußte so rasch wie möglich wissen, was die fürchterliche Unterlassung für entsetzliche Folgen gebracht habe. Die Ziege war noch da; aber sie schlief so fest, daß sie kaum erweckt werden konnte. Sie mußte aber auf, denn es war Melkenszeit. Auch die Ziegenmilch ist ein Artikel, bei dem man das Angebot mit der Nachfrage in Einklang zu bringen hat! Das Karlinchen wurde also herausgezerrt und stellte sich in Positur, doch betrug sie sich während der Lieferung heute anders als gewöhnlich. Sie war augenscheinlich nicht ganz bei der Sache. Sie drehte nicht von Zeit zu Zeit den Kopf nach dem Melkeimerchen um, um nachzusehen, bis zu welchen Höhepunkt die Leistung gestiegen sei, sondern sie hatte die Augen zu und nickte immerfort mit dem Kopfe wie eine müde Großmutter, welche den Strickstrumpf in ihren Händen nie fertig bringt, weil sie bei jeder Runde ein Schläfchen machen muß. Oft wackelte sie sogar, als ob sie träume. Aber dieser Ausnahmezustand war keineswegs von nachteiliger Wirkung auf das, was sie zu leisten hatte. Die Milch schien ganz im Gegenteile heute in Strömen fließen zu wollen. Es hörte gar nimmer auf. Das brachte die Mutter auf ängstliche Gedanken.

»Herzle, geh' schnell durch den Garten und schau nach, wieviel Kraut und Kohl uns das Karlinchen heute nacht weggefressen hat!« sagte sie. »Ich glaube, sie[587] gibt jetzt schon das vierte Nößel! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!«

Das Herzle tat schnell, was ihr befohlen worden war, und brachte dann die Meldung, daß von keiner einzigen Pflanze ein Blättle oder Spitzle fehle.

»So muß ich ihr den Verdacht abbitten,« meinte die schnell reuige Mutter. »Aber es war kein Wunder! Schau einmal her, da ich nun fertig bin! Hat sich so etwas seit Menschengedenken schon einmal ereignet? Der Eimer ist zum Ueberlaufen voll. Das ist doch wenigstens für fünfundzwanzig Pfennige mehr als wie gewöhnlich! Wo kommt das her?«

»Vielleicht grad weil die Tür aufgestanden hat. Die gute Luft die ganze Nacht hindurch!«

Da nickte das Karlinchen wieder, und zwar tief, sehr tief. Dabei hatte sie die Augen jetzt schnell aufgemacht und warf einen zustimmenden Blick nach der Stalltür hin.

»Vielleicht möglich, wenn ich es auch nicht ganz begreifen kann,« sagte die Mutter. »Da wäre es ja auch erklärt, daß sie jetzt noch ganz im Stehen schläft, denn die Nachtluft soll ja die Eigenschaft besitzen, schläfrig zu machen. Wir wollen es doch einmal versuchen und heut' abend die Tür wieder offen lassen!«

Da tat das Karlinchen ganz unerwartet einen Freudensprung, durch welchen sie die Mutter beinahe mit samt dem Eimer umgerissen hätte. Aber sie nahm sich sofort wieder zusammen, um sich ja nicht etwa zu verraten, und trat dann ihr Tagewerk in der altgewohnten, vorgeschriebenen Weise an.

Da hatte sie zunächst zum Bach zu gehen, um zu trinken. Sie tat das links vom Brückle, ja nicht rechts, denn dort lag ja – – – hm! Man denkt am Tage[588] oft nicht gern an das, was in der Nacht geschehen ist, wenn man sich vom Häusle fortgeschlichen hat! Das soll sogar auch bei den zweibeinigen Geschöpfen vorkommen, nicht bloß bei den vierfüßigen! Dann hat man es teils im Kopfe und teils im Magen sitzen. Das knurrt und schnurrt wie ein Kater. Oder es zieht Grimassen wie ein Affe. Man bekommt Appetit nach etwas Saurem, so ungefähr nach dem Sauerampfer da drüben auf der Wiese. Kurz und gut, man ist halb gruselig, halb duselig und hält es gar nicht mehr für möglich, daß man als ein doch sonst so vernünftiges Karlinchen auf den verbotenen Gedanken kommen konnte, dem Herrn Frömmelt seine sämtlichen Aurikeln so radikal vom Beete wegzufressen! Die bittere Schärfe hätte einen doch wohl warnen sollen!

Im Hinblick auf besagten Sauerampfer trug das Karlinchen nun ihr schuldiges Gewissen hinüber auf die Wiese. Ihr Magen sagte ihr, daß dies gegen den Aurikelkater heilsam sei. Nebenan sprach auch noch eine zweite Stimme. Man wußte nur nicht recht, aus welchem inneren Teile. Die riet dem Karlinchen, jetzt gut aufzupassen, es werde jemand kommen. Darum schaute sie, während sie von Zeit zu Zeit ein Maul voll Ampfer zu sich nahm, sehr fleißig nach dem Dorfe. Doch wollte sich von daher niemand sehen lassen. Aber, kam da nicht jenseits der Häuser jemand vom Berge herab? So eilig, als ob keine Zeit zu verlieren sei? Auf dem Wege, den die Anna aus dem Neuberthofe zu wählen pflegte, wenn sie kam? Ja, ganz richtig! Vielleicht war sie es wirklich!

Karlinchen wartete. Ja, sie wurde sogar bald ungeduldig, denn sie hatte die Anna in ihr Herz geschlossen. Eine Viertelstunde verging, vielleicht gar noch[589] mehr. Da konnte das Karlinchen es nicht länger aushalten. Sie wollte ihr entgegengehen. Da rief man sie. Sie drehte sich um. Die Mutter stand an der Brücke und zankte sie aus, daß sie schon früh am Tage spazierengehen wolle. Man habe die Klöppelkissen schon herausgeschafft, um die Arbeit zu beginnen. Sie sollte also kommen, weil man ohne sie nichts fertig bringen könne. Ihr warmes Frühstück stehe dabei.

Das zog! Zerdrückte Kartoffeln mit etwas Roggenkleie und einer Prise Feldkümmel dazu, das geht sogar über das, was eine Ziege Freundschaft nennt. Vielleicht bei den Menschen auch! Doch nicht so ohne allen Kampf! Das Karlinchen warf den Kopf nach beiden Seiten. Sie schaute nach dem Dorf und schaute nach dem Brückle, wo jetzt auch noch das Herzle erschien, um ihr zu winken. Wahrscheinlich hätte sie nun die Kartoffel mit Kleie-Richtung eingeschlagen; aber da ließen sich auch vom Dorfe her mehrere Gestalten sehen, welche die Absicht zeigten, über die Wiese zu kommen.

»Wer ist das?« fragte das Herzle erstaunt die Mutter. »Das ist doch gar Herr Frömmelt!«

»Ja, und die Anna! Er führt sie an der Hand!« antwortete diese, ebenso verwundert.

»Und hinter ihnen die Gasthofstagelöhner. Was haben sie in den Händen? Stangen, sogar ein Netz. Das braucht der Wirt, wenn er im Teiche Karpfen und Schleien fängt. Wollen sie etwa hier in unserem Bache fischen?«

»Jedenfalls ist es verwunderlich! Und – – – schau unser Karlinchen! Sie springt ihnen entgegen. Sie wird von der Anna gestreichelt. Und jetzt vom Musterwirt! Sie duldet das! Wie still sie steht! Jetzt leckt sie ihm gar die Hand! Herzle, so ein Wunder ist noch[590] nicht geschehen! Sie hat ihn nie erriechen können, hat für ihn stets nur die Hörner gehabt, und dieses Mal tut sie mit ihm wie grad mit uns! Das ist ja ganz so, als ob er jetzt ein anderer sei als sonst!«

Das Herzle nickte und ging der Freundin über das Brückle entgegen. Diese ließ die Hand des Wirtes los, eilte auf sie zu, begrüßte sie und sagte hierauf eilig und leise:

»Ich konnte seit drei Uhr heute nacht nicht schlafen. Weißt du, die Sehnsucht kam über mich. Sie wurde so groß, daß ich herüber mußte. Es war, als ob er mich erwartet habe. Er empfing mich zum ersten Male gleich froh, nicht mit dem gewöhnlichen Zorn, der dann vergeht. Er hatte ein ganz anderes Gesicht; das lächelte immerfort. Er rief die Tagelöhner. Sie mußten die Stangen holen und das Netz. Wozu, das weiß ich aber nicht. Er hat es mir verschwiegen.«

Auch die Mutter war ein Stück herbeigekommen. Sie gab der Anna die Hand und wandte sich dann dem Musterwirte zu. Was hatte der heute für Augen! Grad so lieb und so warm hatte ihr verstorbener Mann sie angeschaut, wenn er von der Arbeit gekommen und hier am Brückle von ihr empfangen worden war. Sie konnte gar nicht anders, sie mußte ihm die Hand entgegenreichen. Er nahm sie, hielt sie fest und sagte:

»Marie, fürchte dich nicht vor mir! Es schickt mich einer zu dir her, dem ich jetzt zu gehorchen habe, obgleich er einst in meinen Diensten stand. Der Anton läßt dich grüßen!«

Hierauf wandte er sich an das Herzle:

»Und zu dir schickt mich ein anderer! Ich war dabei und habe gehört, was du mit dem Musterwirt gesprochen hast, als er den Taler deines Vaters an sich[591] raffte. Du hast dich auf den Herrgott berufen. Du meintest, daß er dir sagen werde, was es mit dem Herde und den Flaschen für eine Bewandtnis habe. Du riefst dem Musterwirt zu: ›Behalte den Taler, denn wo dieser ist, da ist mein toter Vater. Der hält ihn fest. Der hebt ihn auf für den Staatsanwalt!‹ So sagtest du. Jetzt wird es in Erfüllung gehen. Der Staatsanwalt ist da. Der bin nämlich ich, ich, ich, der tote Neubertbauer, der aber nicht gestorben ist! Ich habe mich zum Staatsanwalt gemacht, kurz ehe ich aus meinem Körper ging. Und was ein Scheidender verspricht, das muß er halten. Dies habt ihr aus dem Munde des Pfarrers gehört, als er meiner Leiche die Abschiedsrede hielt. Darum komme ich heute so früh zu euch. Der Weg ist frei, und dein Vater ist da. Man hat ihm die gestohlenen Taler bringen müssen – – – ganz, ganz genau dorthin, wo er damals von dem Dieb und Mörder hingebracht worden ist. Das muß so sein. Die Gerechtigkeit hat es verlangt, und ich, der Staatsanwalt, habe darüber gewacht, daß es geschah!«

Indem er dies sagte, strich er der Ziege, welche ganz nahe bei ihm stand, mit der Hand liebkosend über das Haar.

»Jawohl, Karlinchen,« lächelte er dabei; »wir beide wissen mehr als andere; aber wir verraten es nicht. Man würde uns für wahnsinnig halten – – – mich einfach für verrückt, dich aber für besessen!«

Sie fuhr nach seiner Hand, um ihren Kopf an ihr zu reiben. Vielleicht war sie in diesem Augenblicke die einzige, welche nicht an der Klarheit seines Verstandes zweifelte, denn in den Blicken der anderen konnte man deutlich sehen, daß sie das, was er gesagt hatte, für irre Reden hielten. Er mochte das bemerken,[592] denn er sah sie zwar freundlich, aber so von oben herab an, eine nach der anderen. Dann sprach er weiter:

»Ich bringe euch hier meine Anna. Nehmt sie mit hinauf auf euer Bergle. Wir werden hier inzwischen fischen. Was, das werdet ihr erfahren, wenn wir fertig sind. Dann rufe ich euch. Jetzt geht!«

Er sagte diese beiden letzten Worte in einem Tone, dem man gehorchen mußte. Die erste, die über das Brückle ging, war das Karlinchen, und zwar in auffallender Eile. Droben neben dem Tische stand ihr Frühstück, das allerdelikateste, was sie kannte. Sie hatte es nicht vergessen; aber sie sah es gar nicht an. Sie machte eine kurz entschlossene Schwenkung nach dem Stalle hin und verschwand in seinem Innern.

»Das hat man auch noch nicht gesehen,« sagte die Mutter. »Sie muß doch außerordentlich schläfrig sein, sonst würde sie den Napf nicht stehen lassen!«

Was hätte wohl das Karlinchen gedacht, wenn diese Worte in ihre Ohren gedrungen wären? Es soll zwar Geschöpfe geben, welche alles, was ihre Mitgeschöpfe tun, nur auf den Napf beziehen. Eine Ziege aber ist ein hochbegabtes Wesen. Und wenn ein solches Wesen an Quetschkartoffeln mit Roggenkleie und einer Prise Feldkümmel vorübergeht, ohne sogleich darüber herzufallen, wie geistig tiefstehende Personen sicher täten, so kann es dafür doch wohl noch ganz andere Gründe geben als nur Müdigkeit!

Die Frauen hatten an dem Tische Platz genommen. Sie sprachen von dem Musterwirt. Was er tat, das sahen sie nicht. Manchmal kam eine der Stangen über die Büsche empor, welche an dem Innenufer des Baches standen. Seine heutige Art und Weise[593] war ihnen ein Rätsel, welches ihre Gedanken lebhaft beschäftigte. Sie waren weder Psychologinnen, noch hatten sie von Psychiatrie wohl jemals etwas gehört. Für sie war er der gefürchtetste aller Feinde, der aber plötzlich und zuweilen die ganz unbegreifliche Macht zeigte, ihre Angst und Furcht in Liebe und Vertrauen zu verwandeln. Und diese Macht kam ihnen nicht im geringsten unheimlich vor, sondern so freundlich wie ein Licht, welches einem grauenhaften Dunkel die Schrecklichkeit benimmt.

Jetzt erschien er unten am Brückle und winkte ihnen zu, hinabzukommen. Sie taten es. Er kam ihnen einige Schritte entgegen und sagte:

»Ich möchte euch eine Leiche zeigen. Wird euch das aufregen?«

Sie sahen ihn erschrocken an, ohne zu antworten. Sein Gesicht war ernst, doch dieser Ernst war fern von jeder Trauer. Man sah nicht einmal eine Spur von dem, was man Bedauern nennt. Und seine Stimme klang fast gleichgültig, als er weitersprach:

»Es ist die Rosalia. Sie lag am Brückle da im tiefen Wasser, grad da, wo einst dein Mann gelegen hat, Marie. Wir haben sie herausgefischt. Wollt ihr sie liegen sehen?«

»Nein, nein, nein!« riefen alle drei abwehrend aus.

Sie waren entsetzt. Sie wollten das in Worten ausdrücken. Er aber schnitt ihnen diese Worte ab:

»Schweigt! Ihr steht hier an Gerichtsstelle. Da spricht man nichts, was überflüssig ist. Ich bin der Staatsanwalt und habe euch zu fragen. Die Rosalia hat alle eure fünfzig Taler in der Tasche, auch den mit dem Uhrband. Das ist das Geld, wegen dessen der Musteranton ermordet worden ist. Die Untersuchung[594] über diesen Mord kann also beginnen. Vor welchem Gericht? Es gibt ein irdisches und ein jenseitiges Gericht. Es soll auf euch ankommen, welchem von diesen beiden ihr die Nachforschung und das Urteil überlassen wollt. Uebergebt ihr es dem irdischen Gericht, so haben wir jetzt Anzeige bei der Polizei zu machen. Wollt ihr es aber dem Herrgott und seiner Gerechtigkeit überlassen, so nehmen die sogenannten Toten die Sache in die Hände und übergeben sie dem Richter, der niemals irrt und nie Unrecht spricht. Die Polizei sucht vielleicht jahrelang und wird wahrscheinlich den Täter nicht finden. Gott aber kennt ihn seit dem Augenblicke seiner Tat und hat ihn mir in die Hand gegeben. Ich fasse ihn beim Nacken wie eine giftige Natter, die nicht mehr beißen kann. Ich hebe ihn empor, hoch über eure Köpfe, damit alle Welt ihn deutlich sehen kann. Ich zerdrücke ihm den Kopf, in dem nur giftige Gedanken wohnen konnten. Und was kein irdischer Richter tut, weil er es nicht vermag: Ich leiste Ersatz für alles, was er verbrochen hat, sogar für seine sogenannten Morde. Denn jeder, der bei diesem Strafprozeß die Augen offen hat, der muß erkennen, daß grad die Ermordeten es sind, welche über den Mörder zu Gericht zu sitzen haben! Also entscheidet! Welchem Staatsanwalte soll der Mörder des Musteranton übergeben werden? Mir? Oder dem Anwalte beim Gerichte in der Stadt?«

Sie antworteten nicht. Es wäre ihnen unmöglich gewesen, auch nur eine Silbe zu sagen. Sie schlangen die Arme umeinander, um sich zu stützen. Aber sein Auge ruhte so mächtig fragend auf ihnen, daß die Mutter schließlich doch ihre Scheu überwand und sich die Kraft zu den wenigen Worten nahm:[595]

»Nichts von der Polizei! Der Himmel mag ihn richten!«

»Der Himmel!« sagte der Musterwirt, indem er seine Augen dorthin erhob, wo die Morgensonne jetzt über den Bergen stand. »Der Himmel! Der hat aber Gnade! Selbst für den schwersten Missetäter! Nur fordert er, daß er seine Schuld bereue. Bist du damit einverstanden? Der Anton läßt dich fragen, Maria!«

»Ja,« antwortete sie, so tief ergriffen, daß sie laut schluchzend weinte.

»So segne dich der Himmel, an den du dich gewendet hast! Denn du hast – – – dadurch etwas getan – – – was ich nicht für möglich hielt! Du hast mich überwunden, mich, mich, mich, den – – – Neubertbauer. Was ich gesprochen habe, mit dem Messer in der Brust – – – das muß geschehen; das ist nicht zu ändern. Aber die Qual, die Qual, die fürchterliche Qual, an der er lange, lange leiden und dann sterben sollte, die sei ihm abgekürzt! Jetzt wartet hier, nur eine ganz kurze Zeit!«

Er entfernte sich über das Brückle hinüber. Als er wiederkam, hatte er ein Taschentuch in der Hand, mit etwas Schwerem darin.

»Das ist das echte falsche Geld, welches ich der Rosalia jetzt abgenommen habe. Und den falschen echten Taler mit der Perle, den sie nachgemacht haben, um die Polizei zu täuschen, habe ich hinzugelegt. Habt ihr Papier im Haus? Und Tinte auch und Feder?«

»Ja,« antwortete die Mutter.

»So sollt ihr dieses Geld wiederbekommen. Warum, das ist meine Sache. Und du gibst mir eine[596] schriftliche Quittung, welche ich dir diktieren werde. Kommt mit herauf an den Tisch!«

Sie folgten ihm. Das Nötige wurde herausgeholt. Dann diktierte er der Mutter folgendes:

»Fräulein Aurelia Uhlig, welche das Gewissen ihres Vaters ist, hat mir die gestohlenen fünfzig Taler meines ermordeten Mannes wiedergebracht. Als Zinsen legte sie den Lochtaler hinzu, mit welchem die Polizei betrogen werden sollte. Dann ging sie in den Tod. Der Musterwirt hat also kein Gewissen mehr. Er kann nicht einmal seiner Tochter beichten!«

Als sie ihren Namen daruntergesetzt hatte, nahm er das Blatt, las es durch, sah die Frauen eine nach der anderen lächelnd an und fragte:

»Nicht wahr, das ist verrückt? Vollständig verrückt?«

Sie antworteten nicht. Denn in diesem Augenblicke kam der Herr Lehrer in eiligen Schritten das Bergle herauf. Er hatte nach dem Häusle gewollt und die Leiche am Bache liegen sehen. Ganz gegen sein sonstiges, ruhiges Wesen zeigte er sich im höchsten Grade darüber aufgeregt und stürmte auf den Musterwirt so schnell mit Fragen ein, daß zwischen denselben gar keine Zeit zu ihrer Beantwortung blieb. Da aber hielt er plötzlich inne und schaute dem Genannten entrüstet in das Gesicht.

»Sie lachen, Herr Frömmelt!« rief er aus. »Es ist doch wahr, was man von Ihnen sagt: Sie sind verrückt geworden!«

»Nur übergeschnappt, nämlich aus einem Körper in den anderen,« antwortete der Getadelte. »Was ihr superklugen Menschen euch doch für konfuse Bilder macht! Ihr laßt ganze Bücher von der Macht des[597] Geistes über den Körper handeln. Wenn euch aber einmal ein Geist beweist, daß er sogar fremde Menschenkörper genau so wie seinen einstigen zu beherrschen vermag, so nennt ihr ihn – – – verrückt! Was wißt ihr von dem Geist und der Seele! Nur Falsches, nichts als Falsches! Ihr selbst seid irr! Alle eure Sinne werden nur vom Wahn regiert, und das ist der einzige, der allereinzige Wahnsinn, den es gibt! Mein Geist ist klar. Er hat sich selbst erkannt. Sie aber, Herr Lehrer, sind ganz in demselben Grade irrsinnig wie alle, die an meinem Verstande zweifeln. Sie kommen grad im rechten Augenblick. Hier, lesen Sie diese Zeilen!«

Bernstein nahm die Quittung, überflog sie und schaute dann die Mutter fragend an. Diese zeigte auf das Geld, welches jetzt offen auf dem Tisch lag, und sagte, daß man es bei Fräulein Rosalia gefunden habe. Die Quittung sei ihr von Herrn Frömmelt diktiert worden.

»Für wen?« fragte er hierauf den Musterwirt.

»Für Herrn Frömmelt,« antwortete dieser.

Der Lehrer schüttelte den Kopf und machte ein höchst mitleidiges Gesicht.

»Der sind ja Sie selbst!« sagte er. »Und wozu die Bemerkung über das Gewissen, welche vor den Irrenarzt gehört?«

»Da haben Sie recht. Vor den Irrenarzt! Der werde aber ich sein. Und Sie sind der Patient! Wollen Sie sich von mir unterrichten lassen? Soll ich Ihnen beweisen, daß von uns beiden nicht ich der Wahnsinnige bin, sondern Sie?«

Da sah Bernstein ihm offen und ehrlich in die Augen und antwortete:[598]

»Man soll auf die Ideen Geisteskranker eingehen. Sie sind geisteskrank. Also gehe ich auf Ihren Gedanken ein! Er ist im allerhöchsten Grade interessant. Er wird meine Psychologie bereichern. Ich bitte Sie also, mir Ihren Beweis zu liefern!«

»Wohlan, es soll geschehen. Doch fordere ich zweierlei. Nämlich erstens haben Sie und die Frauen alles zu tun, was ich von ihnen verlange. Es wird zwar verrückt klingen, ist aber nichts Verbotenes. Und zweitens haben Sie gegen jedermann zu schweigen, bis ich ausdrücklich sage, daß Sie sprechen dürfen. Wer einverstanden ist, der gebe mir die Hand darauf!«

Der Lehrer gab sie ihm sofort und nickte den Frauen zu, seinem Beispiele zu folgen. Als es geschehen war, fuhr der Musterwirt fort:

»Hören Sie, Herr Lehrer, was ich sage. Ich werde es so kurz wie möglich machen! Außer uns hier wissen nur die Tagelöhner, was unten am Bache geschehen ist. Ich habe ihnen den Befehl gegeben, die Leiche nach Hause zu tragen und in meine Stube zu schaffen, um sie in mein Bett zu legen. Sehen Sie, dort schaffen sie sie schon über die Wiese! Es wird eine ungeheure Aufregung geben, aber wenn sie oben liegt, darf niemand mehr hinauf. Sie gehen von hier nach dem Gasthofe und sorgen dafür, daß der Weg für Sie frei wird. Dann begeben Sie sich zur Leiche, doch darf das kein Mensch sehen. Sie schieben ihr hier diese Quittung in die Hände und verstecken sich dann in die Nebenkammer, wo die heimlichen Geschäftsbücher liegen. Sie sind ja oben gewesen und wissen also, daß eine Glastür hinausführt, an welcher draußen ein Vorhang ist. Hier ist der Schlüssel dazu. Sie schließen sich ein und ziehen ihn sofort wieder ab.[599] Dann beobachten Sie, was sich bei der Leiche ereignen wird. Verhalten Sie sich still und merken Sie sich jedes Wort, welches der Musterwirt zu seiner Tochter spricht!«

»Der Musterwirt? Also Sie!«

»Nein! Das ist ja eben das Rätsel! Das ist die Wahrheit, welche Sie für Wahnsinn halten! Ich bin der Neubertbauer. Und ich will den Musterwirt durch diese Quittung zwingen, die Beichte abzulegen, in der er alles gesteht, was er verbrochen hat. Haben Sie Zeit, zu tun, was ich Ihnen sagte?«

»Zeit? Jawohl! Ich habe der Ausstellung wegen frei bekommen. Ein Vikar erteilt für mich den Schulunterricht. In Beziehung auf die Zeit steht also nichts im Wege. Aber den heimlichen Lauscher zu machen, das geht mir gegen den Strich!«

»Wirklich? Da fangen Sie ja schon an, klein beizugeben!«

»Wieso?«

»Sie erklären mich für verrückt, weil ich behaupte, der Neubertbauer zu sein. Ich bin in Ihren Augen ja unbedingt der Musterwirt! Nun, dieser Musterwirt fordert Sie auf, ihn zu belauschen. Er hat Ihnen sogar den Schlüssel dazu anvertraut. Wenn Ihnen das gegen den Strich geht, so geben Sie damit zu, daß ich nicht diejenige Person bin, welche das Recht besitzt, Sie in die Nebenkammer einzulassen. Merken Sie, daß meine Beweise schon beginnen? Sie reden ja jetzt schon irr!«

Der Lehrer schaute vor sich nieder. Er fühlte, daß dieser Vorhalt logisch war.

»Nun wohl, ich werde es tun,« sagte er. »Sie behaupten, der Neubertbauer zu sein, aber Sie sprechen[600] nicht wie ein Bauer. Sie sprechen sogar noch höher als der Musterwirt. Das ist es, was mich irr macht.«

»Weil Sie nicht wissen, was Geist ist. Ich bin nicht der Neubertbauer abzüglich seines begrabenen Körpers. Ich bin viel mehr, viel mehr. Sie werden das bald erfahren, wenn Sie gehorchen. Ich rechne mit Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben, und ich weiß, daß diese meine Rechnung stimmen wird. Ich bin jetzt nicht mehr Körper, sondern nur noch Gesetz und Kraft. Was ich war, das hat sich aufgelöst und ist mit anderem ein vollständig Neues geworden. Dies Neue besitzt eine Macht, von der Sie keine Ahnung haben. Was Ihrer Polizei und aller Ihrer Anstrengung wohl kaum jemals gelänge, das werde ich im Handumdrehen zum guten Ende führen! Gehen Sie! Tun Sie, was ich sagte! Ich habe nichts hinzuzufügen.«

Er stand hoch aufgerichtet. Seine Augen blitzten. Es war, als ob man ihm nicht widerstehen könne. So wirkte er auch auf den Lehrer. Dieser gab ihnen allen die Hand und entfernte sich. Der Musterwirt sah ihm eine Weile nach und wandte sich dann an die Tochter des Neubertbauers:

»Anna, es wird nachher die Sehnsucht wieder über dich kommen. Du gehst nach dem Gasthofe, gleich die Treppe hinauf, in die Stube des Wirtes. Du lässest dich von niemand abhalten. Du sagst, Herr Frömmelt habe dich hinaufbestellt. Wenn dieser die Tür verriegelt hat, so lässest du ihm keine Ruhe. Er muß, muß öffnen. Wenn er nicht will, so drohst du ihm, du werdest sonst sofort zur Polizei gehen, wegen der Quittung, welche seine Tochter in den Händen habe. Da wird er dich einlassen. Dann schaust du ihm in die Augen und sprichst mit ihm, bis er sich in[601] mich verwandelt hat. Das Weitere wird sich finden. Du hast mir treu gehorcht, du liebes, gutes Mädchen. Es war wohl manchmal schwer, doch nun bekommst du auch das Allerletzte, was dir der Wirt noch schuldig geblieben ist.«

Er zog sie an sich, drückte seine Lippen auf ihr Haar und wollte gehen. Da kam das Karlinchen aus dem Stall.

»Du willst mich wohl bis zu dem Brückle schaffen?« fragte er sie. »Na, so komm! Die Luft ist wieder rein!«

Sie lief an seiner Seite, als ob sie zu ihm gehöre. Unten am Wasser liebkoste er sie und sprach noch etwas zu ihr. Dann ließ er sie allein. Die Frauen sahen, daß er nicht direkt nach dem Gasthofe ging, sondern sich am Bache aufwärts wandte. Er wollte einen Umweg machen. Warum, das wußte er genau.

Nach einer halben Stunde kam er das Dorf herunter. Man grüßte ihn, doch ganz anders als sonst.

»Wie schaut man mich doch nur an!« dachte er. »Als ob etwas geschehen sei! Aber was? Warum bin ich nicht daheim? Wo bin ich gewesen? Als ich mich auf mich besann, stand ich auf der Waldwiese und schaute in das Wasser. Wenn das so weitergeht, da muß ich mich selbst auch für wahnsinnig halten, wie die anderen wohl schon tun, obgleich es bisher falsch gewesen ist!«

Als er den Gasthof erreichte, standen viele Neugierige da, die ihm in scheuer Höflichkeit Platz machten. An der Tür lehnte einer seiner Tagelöhner, der ihnen augenscheinlich etwas erzählt hatte.

»Wir haben sie hinaufgeschafft in Ihre Stube,«[602] meldete dieser nun seinem Herrn. »Sie liegt in Ihrem Bette.«

»In meinem Bette? Wer?« fragte der Wirt.

»Na, doch Fräulein Rosalia. Sie haben es doch befohlen!« antwortete der Mann verwundert.

Der Wirt griff sich an den Kopf und sah den Tagelöhner wie abwesend an. Er ahnte, daß er schon wieder etwas getan habe, wovon er jetzt nichts mehr wisse. Warum diese vielen Leute? War es etwas Schlimmes? Es packte ihn die Angst. Er trat schnell in das Haus und eilte die Treppe hinauf. Droben war es, als ob ihm jemand die Augen zumache. Er trat ein, riegelte von innen zu und schlug sie dann wieder auf. Er sah seine Tochter lang ausgestreckt auf dem Bette liegen. Sie hatte ein Papier in den zusammengelegten Händen und stierte ihn mit weitgeöffneten Augen an, grad wie damals der Neubertbauer. Sie war tot. Ihr Anzug triefte noch. Das Oberbett, auf dem sie lag, war, wie man im Gebirge zu sagen pflegt, vollständig fadennaß.

»Sie hat sich ersäuft, ersäuft!« brüllte er auf, stürzte sich auf sie zu und sank vor dem Bette nieder.

Hierauf war es still in der Stube. An der Glastür wurde der Vorhang leise von innen bewegt. Nach einiger Zeit raffte er sich langsam, langsam wieder auf. In seinem Gesichte arbeitete das sprachlose Entsetzen. Er griff nach dem Zettel, um ihn zu lesen. Als er dies getan hatte, ballte er ihn krampfhaft zusammen. Es sah aus, als ob er dabei die Hände ringe. Dann ließ er ihn auf den Boden fallen.

»Ich hätte kein Gewissen mehr!« rang es sich aus seiner Brust. »Ich könnte dir nun nicht mehr beichten! Und grad auf dich habe ich mich verlassen, auf dich[603] allein, allein! Warum hast du mir das getan – – – warum?«

Er wandte sich von ihr ab und begann, in der Stube hin und her zu gehen, mit unsicheren Schritten, fast taumelnd. Zuweilen blieb er stehen, um das Gesicht in beide Hände zu vergraben. Wollte er weinen? Es kam keine Träne, keine einzige. Dann rief er plötzlich laut und kopfschüttelnd aus, indem er die Hände dabei zusammenschlug:

»Nicht in das Wasser, sondern auf das Bergle hast du das Geld getragen! Sogar den neuen Lochtaler auch dazu! Und dir für mich, für mich die Quittung geben lassen, für mich, für mich! Also du hast gelogen! Hast mir meine Schuld nicht ab- und auf dich genommen! Du warst zu bequem dazu! Darum bist du in das Wasser gegangen! So ein schneller Sprung ist tausendmal leichter als das böse Gewissen, welches du mir nun wieder auf den Hals geworfen hast! Und dazu die Schande, die Schande, die Schande, daß ich nun der Vater einer Selbstmörderin bin, die ohne Sang und Klang in die hinterste Kirchhofsecke gehört! Ganz wie der Neubertbauer – – – der Neu – – –«

Er hielt inne, sah wie unter einem plötzlichen Gedanken zu ihr hinüber, sprang auf sie zu, schüttelte das Kissen, auf dem ihr Kopf lag, und stieß hervor:

»Weibsen – – –! So hat er dich ja auch genannt, damals, als du ihn verhöhntest – – – Weibsen, willst du nun etwa Kompanie mit ihm machen, Kompanie gegen mich? Das bilde dir ja nicht ein! Dazu bin ich euch doch viel zu klug! Ja, wenn er nicht selbst so dumm gewesen wäre, mir zu verraten, wie es nach dem Tode da drüben bei euch[604] Geistern und Gespenstern steht! Das rächt sich nun an ihm und auch an dir!«

Er setzte seine Wanderung durch die Stube fort, jetzt mit fast stürmischen Schritten. Dabei stieß er kurzabgerissene Worte aus, als ob es seine Absicht sei, sich in die Wut hineinzuarbeiten. Nach einiger Zeit blieb er stehen, drehte sich im Kreise und suchte mit den Augen rund um sich her.

»Ich sehe euch zwar nicht, aber ihr seid da; ihr drückt euch hier herum!« spottete er. »Ich weiß ja, wie schnell der Neubertbauer gekommen ist. Fräulein Rosalia wird sich nicht weniger rasch eingestellt haben. Sie war ja stets sofort bei der Hand, wenn es galt, mir etwas abzupressen! So hört denn zu, was ich euch sagen werde!«

Er schaute nach dem Bette hinüber, machte eine Handbewegung, als ob dort diejenigen sich befänden, zu denen er redete, und fuhr dann fort:

»Was ein Mensch kurz vor dem Tode spricht, das hat er auch auszuführen. Da hilft ihm weder Gott noch Teufel los! Wißt ihr das? Ihr habt es ebenso gut wie ich gehört! Was aber hat die Rosalia mir versprochen? Nur zwei Stunden, ehe sie zum Wasser ging? Daß sie mein böses Gewissen auf sich nehmen will und meine ganze Schuld! Das hat sie nun zu tun, ohne Weigern und ohne Widerrede! Oder denkt sie etwa, daß ich so dumm bin, sie nicht beim Wort zu halten? Fällt mir gar nicht ein! Sie hat ja selbst gesagt, daß ich nicht ihr Vater sei! Und hierauf hat sie mir gar noch folgendes in das Gesicht geworfen: ›Am besten ist es, ich schmeiße dich in das Wasser, anstatt den Taler. Du bist der Mörder und gehörst hinein!‹ Da aber hat der Herrgott gerichtet[605] und sie zur Selbstersäuferin gemacht! Und das ist für mich mehr als genug; ich muß ihm seinen Willen lassen. Dieser Wille aber ist, daß ihr mein böses Gewissen und meine Schuld gehört. Sie hat es abzubüßen, nicht ich, sondern nur sie allein. Ich mache mich jetzt von allem frei, indem ich es jetzt vom ersten Anfang bis zum letzten Ende aus mir herausnehme und ihr vor die Füße werfe. Sie hat zwar niemals etwas aufgehoben, was man vor ihr niederwarf; dieses Mal aber weiß ich, daß sie sich zu bücken hat. Ich werde beichten!«

Er ging an das offene Fenster, um es zu schließen, schaute nach, ob die Tür gut verriegelt sei, und lachte dabei wie ein Irrsinniger vor sich hin:

»Nicht wahr, das habt ihr nicht erwartet, ihr armen Seelen aus der ewigen Seligkeit? Für so pfiffig habt ihr mich nicht gehalten! Jetzt werde ich euch zeigen, was es heißt, sich die Rechnung ohne den Wirt zu machen, nämlich ohne mich, den Musterwirt!«

Er ging nun auch an die Glastür. Sie war verschlossen. Da griff er in die Tasche, fand aber den Schlüssel nicht.

»Wo ist er?« fragte er. »Ich weiß ganz genau, daß ich ihn eingesteckt habe! Hast du mir ihn etwa gestohlen, Neubertbauer? Wozu? Da draußen liegen meine Bücher. Du hast mir auch schon hineingeschaut! Wo hast du ihn versteckt – jetzt auf dem Spaziergange? Etwa unter die Holzklafter im Busch, wo schon dein Messer steckt? Die Waldwiese, wo ich stand, liegt ja so in der Nähe, daß –«

Da hielt er plötzlich inne. Er erschrak. Das war ja das Geheimnis, welches er um keinen Preis verraten wollte! Er schlug sich zornig vor den Kopf,[606] war aber nun glücklicherweise von der Glastür abgelenkt.

»Ich gehe nachher hinaus und verstecke es wo anders,« beruhigte er sich. »Jetzt habe ich keine Zeit. Da steht der Tisch. Das soll der Altar sein. Ich lege die Bibel darauf, die dort bei dem Gesangbuch steckt. Die Geister haben Angst vor ihr. Ich schlage den Spruch auf: ›Und ihre Werke folgen ihnen nach!‹ Den habe ich mir eingezeichnet, weil er auf den Neubertbauer geht. Und dann, dann werde ich dem Fräulein Rosalia beweisen, daß ihre Quittung lügt. Ich beichte ihr, obgleich sie es nicht will!« –

Quelle:
Das Geldmännle. In: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Karl Mays Erstlingswerke. Band I. – Dresden-Niedersedlitz (1903). S. 439–648, S. 566-607.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Erzgebirgische Dorfgeschichten
Erzgebirgische Dorfgeschichten Teil 2 (Erzgebirgische Dorfgeschichten)
Erzgebirgische Dorfgeschichten
Erzgebirgische Dorfgeschichten
Erzgebirgische Dorfgeschichten: Reprintausgabe des Erstdrucks
Der Teufelsbauer: Eine erzgebirgische Dorfgeschichte

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon